Wienerherz - Kriminalroman
schwindelerregende Ausmaße, die unzufriedene Bevölkerung wählte rechte Populisten an die Macht, die bald darauf ihre mörderischen Diktaturen errichteten.«
»Vor diesem Hintergrund verstehe ich natürlich …«
»Was?«
»Dass dieser Herr Professor so gern über das Bankhaus Kertmann & Dorin schreibt. Offensichtlich ist es damals deutlich besser als andere durch die Krise gekommen.«
Freund las weiter. Über Cornelius Dorin fand er nur einen kurzen Eintrag:
»Am 15. Februar 1934 starb Cornelius Dorin bei einem tragischen Autounfall.«
Freund wollte sich nicht allein auf das womöglich tendenziöse Werk verlassen und fischte ein paar Bücher aus dem Wohnzimmerregal, um darin vielleicht mehr zu erfahren und sein Wissen über 1934 generell aufzufrischen. Erinnern konnte Freund sich daran, dass das Land 1933 denselben Weg wie der große Nachbar Deutschland eingeschlagen hatte. Ein demokratisch gewählter Kanzler hatte sich verfassungswidrig zum Diktator aufgeschwungen.
Für Geschichte hatte Freund sich schon immer interessiert, zwei Reihen des Regals füllten Bände darüber, von der großen Welt bis zur Historie einzelner Wiener Bezirke. Viel zu selten kam er dazu, sie zu studieren.
Claudia setzte sich ans andere Ende der Couch, schob ihre Füße unter seine Schenkel und klappte den Laptop auf ihrem Schoß auf.
Wäre Freund eine Katze gewesen, er hätte geschnurrt, auch wenn seine Lektüre wenig erfreulich war.
Nichts gewusst hatte er etwa über eine Petition, die den Bundespräsidenten nach Dollfuß’ Ausschaltung des Parlaments aufgefordert hatte, für die Durchsetzung der Verfassung und die Wiedererrichtung der Demokratie zu sorgen. Über eine Million Menschen unterschrieben. Umsonst. Nach den Vorbildern der italienischen und deutschen Faschisten gründete die Regierung als Nachfolgeorganisation der Christlichsozialen Partei eine Einheitspartei, die Vaterländische Front. Deren Symbol, das Kruckenkreuz, sah dem Hakenkreuz auffällig ähnlich, fand Freund.
In der Folge kam es zu Spannungen zwischen der Vaterländischen Front und den Oppositionsparteien, allen voran den Sozialdemokraten. Sie eskalierten im Februar 1934, als Polizei, Militär und die paramilitärische Organisation der Vaterländischen Front, die Heimwehr, einen bewaffneten Aufstand des Schutzbundes, des sozialdemokratischen Pendants der Heimwehr, blutig niederschlugen.
Bereits im Juli kam es zu einem erneuten Putschversuch, diesmal durch die Nationalsozialisten. Einige von ihnen drangen bis ins Bundeskanzleramt vor, schossen Engelbert Dollfuß an und verweigerten ärztliche Versorgung, worauf der Diktator verblutete. Der Putsch selbst scheiterte, Dollfuß’ Nachfolger Schuschnigg, der schon als Justizminister 1932 die Demokratie in Frage gestellt hatte, setzte die Diktatur fort.
Über die wirtschaftlichen Akteure der Zeit fand Freund nichts in den Büchern. Für sie musste er wohl das Internet bemühen. Dafür erfuhr er, dass die österreichische Fußballnationalmannschaft erstmals an einer Weltmeisterschaft teilgenommen hatte.
»Was hältst du von einem Tausch?«, fragte er Claudia. »Mein Wein gegen deinen Laptop.«
Claudia wog die Option kurz ab. »Ist recht.«
Freund reichte ihr das Glas und empfing im Gegenzug den Computer.
Zu Freunds Stichworten präsentierten die Suchmaschinen wenig brauchbare Treffer. Cornelius Dorin tauchte nirgends auf. Sein Vater Alfred und Bruder Eduard wurden immerhin in ein paar Artikeln erwähnt. Unter anderem war Alfred in die Geschäfte mit der Metallurgischen Forschungsgesellschaft verwickelt, jenem Scheinunternehmen, das über die sogenannten Mefo-Wechsel in Wirklichkeit die deutsche Wiederaufrüstung finanzierte. So viel zu politischer Neutralität.
»Dein Weinglas ist leer«, erklärte Claudia. »Ich bekomme meinen Computer wieder.«
»Das war doch eben noch gut gefüllt!«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Wein gegen Computer, das war der Deal. Kein Wein, kein Computer.«
Die Erklärungen über die Funktionsweisen der Mefo-Wechsel waren Freund für diesen Abend ohnehin zu kompliziert. Bereitwillig gab er Claudia den Computer zurück.
»Möchtest du ein eigenes Glas?«, fragte er.
»Du kannst auch das auffüllen.«
Schön ist relativ
An dem Rohbau im neunten Bezirk pries ein großes Plakat »Vorsorgewohnungen« an. Freund fragte einen Arbeiter nach Jo Pridlaschek, der ihn in den vierten Stock schickte.
Der Lärm zerfetzte ihm fast das Trommelfell, während er die Treppen erklomm.
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