Wienerherz - Kriminalroman
Oben angekommen musste er erst einmal nach Luft schnappen und seine brennenden Schenkel rasten lassen. Auf der Etage, in der noch keine Wände eingezogen waren, zählte er acht Arbeiter. Er suchte den »Schönling«, wie Harnusson ihn laut Spazier genannt hatte. Was sie allerdings darunter verstand, wusste er nicht. Am ehesten kam noch ein Typ ganz hinten in Frage. Er trug einen Blaumann, hatte längere, dunkle Locken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, kniete an einer Wand und zog Kabel durch ein Rohr.
»Herr Pridlaschek?«
Der Mann arbeitete so konzentriert, dass er kaum den Kopf wandte, als er fragte: »Wer will das wissen?«
»Inspektor Freund, Kriminalpolizei.«
Pridlaschek sprang auf, stieß Freund so heftig, dass der Inspektor stürzte, und rannte davon. Freund rappelte sich hoch und hastete ihm nach. Pridlaschek hatte bereits die Treppe erreicht und sprang mehrere Stufen auf einmal hinab. An seinen Bewegungen erkannte Freund den trainierten Sportler. Auf dem Weg nach unten gewann Pridlaschek einen Vorsprung. Als Freund die Straße erreichte, sah er den Flüchtigen schon fünfzig Meter weiter. Er setzte ihm nach, musste sich aber sehr bald eingestehen, dass er sich nur einem Kreislaufkollaps näherte, sonst niemandem. Schließlich gab er keuchend auf. Pridlaschek verschwand hinter einer Hausecke.
Freund wartete die Minuten, bis er wieder reden konnte, ohne zwischen jedem Wort zu japsen wie ein Fisch am Trockenen, dann rief er in der Zentrale an und befahl die Fahndung.
Vielleicht muss ich doch etwas für meine Fitness tun, dachte er, an eine Hauswand gelehnt, während er spürte, wie der hämmernde Pulsschlag nur langsam aus seinem Kopf verschwand und seine Lunge immer noch zu platzen drohte.
Fluchend kehrte Freund zurück zur Baustelle. Der aufgebrachte Polier erwartete ihn. Freund gab keine langen Erklärungen. Er musste noch einmal hoch. Als er zum zweiten Mal in den vierten Stock stieg, spürte er jeden Knochen. Oben ließ er sich ein Stück des Rohrs, durch das Pridlaschek die Kabel gezogen hatte, abschneiden, wobei er darauf achtete, dass es niemand mit bloßen Fingern anfasste. Er umhüllte es mit zwei Spurensicherungssäckchen. Als Nächstes rief er Canella an. Er sollte in Pridlascheks Wohnung ebenfalls Fingerabdrücke sicherstellen. Dann fuhr er nach Hause, duschte sich, wechselte seine verstaubte, verschwitzte Kleidung und machte sich auf den Weg ins Büro.
Die Teamsekretärin, Frau Ivenhoff, teilte ihm mit, dass Herr Leopold Dorin um einen Rückruf gebeten habe.
Zuerst wollte Freund Pridlaschek recherchieren.
In den Datenbanken stand nichts über den Mann. Im Internet fand er ein paar Bilder. Auf ihnen posierte Pridlaschek als Freeclimber und Basejumper, andere zeigten ihn mit Freunden. Manche wirkten geradezu inszeniert, als wolle Pridlaschek sich damit als Posterboy für einen Freizeitausrüster empfehlen. Auf den meisten betonten die langen, offen getragenen Locken den geckenhaften Eindruck noch. Schön ist relativ, dachte Freund, aber manche Frauen fanden den muskelbepackten Kerl mit den geschwungenen Lippen sicher attraktiv.
»Ich bin jetzt da.«
Spazier stand in der Tür.
»Hast du den Pridlaschek gefunden?«, fragte er.
»Gefunden und verloren.« Er fasste zusammen. Dann sagte er: »Du kannst dich gleich weiter um den Kerl kümmern. Seht euch seine Wohnung an. Canella ist bereits bestellt. Und dann frag diese Ex-Freundin, ob sie weiß, wo er sich verstecken könnte.«
»Sehr gern.«
Freund sah ihm verwundert nach – »Sehr gern?« –, als sein Telefon läutete und Frau Ivenhoff erklärte, dass schon wieder der Herr Dorin dran sei. Sie stellte durch.
»Mir ist noch etwas zu meinem Bruder eingefallen«, erklärte Dorin. »Hätten Sie heute eine Viertelstunde Zeit für mich? Ich kann mich nach Ihnen richten.«
Bei Freund klingelten alle Alarmglocken. Wenn jemand wie Leopold Dorin ihm, dem einfachen Kriminalinspektor, die Terminkontrolle überließ, musste es ihm sehr wichtig sein.
Pridlaschek ist momentan wichtiger, dachte er. Zwei Verabredungen hatte er bereits. Er musste Dorin und seine eigene Neugier auf den Nachmittag vertrösten.
»Passt Ihnen drei Uhr?«
»Ja. Mir wäre angenehm, wenn wir uns an einem nicht zu exponierten Ort treffen könnten. Natürlich gern in der Nähe Ihres Büros.«
Er will nicht gesehen werden, wie er das Kriminalkommissariat betritt, überlegte Freund.
»Ich kann auch zu Ihnen kommen«, sagte Freund.
»Ich möchte Ihnen keine
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