Wienerherz - Kriminalroman
sein?«
»Herr Dorin war bekanntermaßen kein Kostverächter, wie man so sagt.«
»Sagt man das so?«, fragte sie schnippisch.
»Wissen Sie, ob Florian Dorin noch andere Freundinnen hatte?«
»Sie meinen, außer mir?«
Spazier nickte.
»Auch wenn ich es ebenso unverzeihlich wie unverständlich fände.«
Das war ihm jetzt so herausgerutscht.
Wieder Harnussons Lächeln.
»Keine Ahnung. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.«
Spazier ließ sich die Adresse von »Jo« geben.
»Er arbeitet auf einer Baustelle im neunten Bezirk«, fügte sie noch hinzu und nannte ihm auch diese Straße.
Zu seinem Bedauern hatte Spazier keinen weiteren Grund, länger zu bleiben.
Bevor er wieder auf sein Motorrad stieg, rief er Freund an und berichtete.
»Ich muss morgen früh zu Gericht«, erinnerte er den Chefinspektor. Er musste als Zeuge in einer Verhandlung wegen eines Verkehrsunfalls aussagen.
»Ich weiß«, antwortete Freund. »Dann werde ich diesen Pridlaschek auf der Baustelle besuchen.«
Sturm
Der Abend verlief ausnahmsweise ohne Sportdiskussionen. Stattdessen machte Claudia einen Vorschlag, der Freund gefiel.
»Die Wettervorhersage für das Wochenende ist herrlich. Es soll noch einmal richtig warm werden. Und wir wollten ohnehin in den Garten. Was hältst du von einem spontanen Herbstfest?«
Von seinem Vater hatten sie einen winzigen Weingarten mit Gartenhäuschen am Nussberg übernommen, ein Paradies am Stadtrand. Den Sommer verbrachten sie dort. Die Reben hatte er verpachtet. Dafür bekam er jeden Herbst ein paar Flaschen Sturm und im Jahr darauf ein paar Flaschen Wein. Riesling. Nicht sein Lieblingswein, aber sein eigener.
»Ich habe ein paar Leute eingeladen, vorbeizuschauen. Ganz unkompliziert und ohne Umstände. Ich habe mir gedacht, wir braten Maroni und Äpfel, dazu gibt es unseren Sturm. Vielleicht fällt dir auch noch wer ein.«
Nach dem Abendessen schickte er eine SMS an alle, die er gern wieder einmal sehen wollte.
Sobald er damit fertig war, machte er es sich mit Lesebrille und einem Glas Rotwein auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem und griff zu dem schweren Buch, auf dessen dickem Ledereinband mit Goldlettern geprägt stand: »Eine Chronik der Familie Dorin«.
Verfasst hatte den Schinken ein Univ.-Prof. Mag. Dr. Dr. Theodor Pandell. Nach über zwanzig Jahren war das Papier bereits etwas vergilbt und roch nach Staub.
Auf der Suche nach Cornelius Dorins Namen überflog er die Seiten nur. Eine erste Erwähnung fand er in den zwanziger Jahren.
»Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er als Kadett diente, absolvierte Cornelius Dorin eine Lehre in der väterlichen Bank und studierte an der Hochschule für Welthandel. In den folgenden Jahren ging er seinen eigenen Weg.«
Freund blätterte, bis die Jahreszahlen im Text die 1930er erreichten. Laut der Chronik hatten sich die Dorins aus den politischen Entwicklungen der Zeit weitestgehend herausgehalten. Mehr Aufmerksamkeit widmete der Text ihren erfolgreichen wirtschaftlichen Aktivitäten. Ausführlich behandelte der Autor die Ereignisse rund um die Übernahme der Bank Feldstein Diswanger & Co durch Kertmann & Dorin. Freund erinnerte sich dunkel, dass damals was mit österreichischen Banken gewesen war.
»Was liest du da?«
Claudia drückte ihm einen Kuss in den Nacken.
Er zeigte ihr den Umschlag.
»Brauchst du das für den Fall? Wenn es denn einen gibt?«
»Wahrscheinlich nicht. Aber interessant ist es trotzdem. Unter anderem, mit welchen Schwerpunkten dieses Buch geschrieben wurde. Scheint mir recht, sagen wir freundlich zu sein. Die frühen dreißiger Jahre zum Beispiel. Kein Wort über die politische Einstellung der Familienmitglieder, umso mehr dafür über wirtschaftliche Erfolge. Apropos, du Wirtschaftsanwältin, was war mit den österreichischen Banken in dieser Zeit?«
»Die Weltwirtschaftskrise zum Beispiel.«
»So viel weiß ich auch. Aber die begann schon 1929.«
»Wie du richtig sagst, war das erst der Anfang. Es dauerte zwei weitere Jahre bis zum zweiten Akt des Dramas. 1931 konnten viele Probleme nicht mehr zugedeckt werden, sie kumulierten, und die Österreichische Credit-Anstalt brach zusammen. Das löste eine europaweite Bankenkrise aus. In Erinnerung daran waren deshalb beim Ausbruch der Finanzkrise 2008 auch einige Menschen wieder nervös wegen der österreichischen Banken, weil sie eine ähnliche Entwicklung fürchteten. Die seinerzeitigen Folgen kennen wir: Die ohnehin schon hohe Arbeitslosigkeit erreichte
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