Wienerherz - Kriminalroman
dem Dorin an seinem Todestag den letzten Termin gehabt hatte, tauchte nirgends auf. Trotzdem sollten sie den auch noch interviewen. Der Ex-Politiker war mittlerweile in der Privatwirtschaft als Berater unterwegs. Vielleicht wollte er auch Geschäfte mit Florian Dorin machen.
Freund ging in den Nebenraum zu Marietta Varic und Lukas Spazier. Hätte man jemanden gefragt, der die beiden nur vom Sehen kannte, er hätte die Arbeitsplätze bestimmt falsch zugeordnet. Auch Freund wunderte sich immer wieder. Von der alleinerziehenden Mutter zweier fast erwachsener Söhne hätte er penible Ordnung und Planung erwartet, um den aufreibenden Arbeits- und Privatalltag organisiert zu bekommen. Dagegen hatte Freund, als er Spazier kennenlernte, ihn als ebenso unberechenbar und chaotisch eingeschätzt, wie der Jüngste im Team sich kleidete und alle paar Wochen eine neue Frisur und Barttracht präsentierte. Auch heute hätte mancher den wirrhaarigen Typ mit dem Strichbärtchen über den Lippen, in Kapuzensweater und geflickten Jeans hinter dem tadellos aufgeräumten Tisch, eher für einen Verdächtigen gehalten, der auf ein Verhör wartete – wäre er nicht auf der falschen Seite des Tisches gesessen. Auf Varics Tisch dagegen türmten sich die Unterlagen in einem prekären Gleichgewicht, von dem Freund aber wusste, dass sie mit einem Handgriff sofort darin fand, was sie suchte. So hatte jeder seine eigene Ordnung.
In einer Ecke des Raums standen zwölf Kartons mit Unterlagen, die sie aus Dorins Haus mitgenommen hatten. Bei einigen standen die Flappen offen, andere waren noch fest mit Klebeband verschlossen.
»Wie geht es euch im Fall Dorin?«
Spazier stöhnte.
»Wir haben uns einmal die Kalenderdaten und Anrufe der vergangenen Tage vorgenommen und versucht, die Tage zu rekonstruieren. So weit ist uns das gelungen. Am Nachmittag vor seinem Tod haben wir noch ein Lücke.«
»Er hatte Entscheidendes vorzubereiten«, sagte Freund. »Wenn er es selbst getan hat.«
»Glaubst du, dass er zu diesem Zeitpunkt schon dazu entschlossen war?«, fragte Varic. »Die Tat könnte ja auch spontan erfolgt sein.«
»Oder die Folge von etwas, das an diesem Nachmittag passiert ist«, ergänzte Spazier.
»Im Büro traf er Joachim Thaler. Vereinbart mit dem doch bitte noch einen Termin.«
Spazier zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
»Habt ihr die restlichen Nachbarn erwischt?«
»Noch nicht alle. Niemand hat etwas gesehen. Weder am Nachmittag vor dem Tod und schon gar nicht in der Nacht.«
»Der Student hatte wohl einen sitzen, als er Dorin Koffer verladen gesehen haben will.«
»Fürchte ich auch. Das Gewehr habe ich überprüft. Es gehörte Dorin, und er hatte eine Genehmigung dafür. Bekommen wir eine Rufdatenverfolgung?«
»Der Untersuchungsrichter hat uns sein Okay gegeben, ist bereits angefordert. Kommt hoffentlich in den nächsten Tagen.«
»Die Frau von diesem Aktionär, der Dorin bedrohte«, sagte Spazier, »hat sein Alibi bestätigt. Na ja, was das Alibi einer Ehefrau eben wert ist.«
Varic stand auf und streckte sich. Freund konnte nicht umhin, festzustellen, dass sie mit ihren vierzig Jahren noch immer ausgezeichnet aussah. Er ertappte sich dabei, wie er seinen Bauch einzog.
»Meinst du wirklich, dass es sinnvoll ist, unsere Zeit dafür einzusetzen? Mir schaut das alles so verdammt nach einem ganz normalen Suizid aus.«
»Und der gebrochene Finger?«, antwortete Freund.
»In der Hektik, im Stress, was weiß ich.«
Freund hatte Verständnis für ihre Frage. Ihm ging dieser Fall auch gegen den Strich. Er konnte gar nicht richtig sagen, warum, aber er fühlte sich permanent unwohl dabei. Wenn er daran dachte, ihn abzuschließen und als Selbsttötung zu klassifizieren, sprang sofort Waneks Obduktionsbericht in sein Hirn. Sobald er sich jedoch mit den Ermittlungen beschäftigen musste, fragte er sich wie Varic unentwegt nach der Sinnhaftigkeit der Aufgabe. Vielleicht lag es daran, dass sie außer einem gebrochenen Finger (der kleine noch dazu, mickriger ging es nicht mehr) keinen Ausgangspunkt für Ermittlungen hatten. Stattdessen saßen sie vor einer unübersehbaren Zahl von Kontakten des Toten und damit ebenso vielen möglichen Tätern (und gleich wieder der innere Einwand: wenn es denn einen Täter gab – Chance fast null), Geschäften, die keiner verstand beziehungsweise von denen nicht einmal jemand genau wusste, worin sie überhaupt bestanden. Tognazzi hatte Freund zwar eine Einführung gegeben. Aber um den
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