Wienerherz - Kriminalroman
Inhalt der Ordner aus Dorins Haus zu verstehen, brauchte man einen Doktor der Wirtschaftswissenschaften. Und Freund hatte nun einmal den der Juristerei. Sie standen vor einem Bergmassiv und hatten keine Idee, wie sie darüber oder daran vorbeikommen sollten, um an ihr Ziel zu gelangen. Falls ein Ziel existierte.
In seinem Zimmer klingelte das Telefon. Er nahm das Gespräch direkt auf Spaziers Apparat an.
»Der Brief von dem Suizid auf der Höhenstraße vor ein paar Tagen«, sagte der Schriftanalytiker, dem er Dorins Abschiedsschreiben gegeben hatte. »Den Bericht habe ich Ihnen gerade gemailt.«
Bevor Freund nach dem Ergebnis fragen konnte, hatte der andere schon wieder aufgelegt.
»Die Schriftanalyse ist da«, sagte er.
»Zeig her«, forderte Spazier.
Im Maileingang fand Freund die Nachricht, im Anhang den Bericht. Er druckte ihn aus, weil er immer noch lieber so las. Bei ihm hatte das papierlose Büro nie eine Zukunft gehabt.
Der Ausdruck zeigte den Abschiedsbrief und das Notizzettelchen aus der Kanzlei nebeneinander. Auf beiden waren verschiedene Buchstabenteile eingekreist. Freund las die Schlussfolgerung des Experten. Spazier und Varic standen neben ihm und lasen mit.
»Da hast du es«, stellte Varic fest. »Eindeutig Dorins Schrift. Und: kein Hinweis auf äußerlichen Zwang zur Zeit des Verfassens.«
»Sag einmal«, warf Spazier ein, »hast du vorhin nicht etwas von einem Termin um drei Uhr gesagt? Es ist zwei Minuten vor drei.«
»Ach du liebe …«
Das wird meinen Bruder freuen
Als Freund eine Viertelstunde später ins Reidl kam, wartete Dorin in einem dunklen Dreiteiler aus feinstem Zwirn an einem Tisch weiter hinten. Das Lokal hatte sich in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren nicht wesentlich verändert, nur älter war es geworden, wie seine einstigen Besucher. Die klobigen Möbel aus hellem Holz, mit denen diese Sorte Beisl in den achtziger Jahren eine Zeit lang gern eingerichtet worden war, übersät mit dunklen Kratzern und eingeritzten Schriftzügen, eingerissene, gewellte Veranstaltungsposter der vergangenen Jahrzehnte hingen an den Wänden. Der einzige Unterschied zu früher war die Luft. Im großen Hauptraum war das Rauchen verboten. Einige Tische waren besetzt.
»Entschuldigen Sie bitte die Verspätung.«
Dorin steckte sein Mobiltelefon ein, auf dem er gelesen hatte, erhob sich und reichte Freund die Hand.
»Kein Problem. Danke, dass Sie gekommen sind.«
Vor ihm standen eine kleine Flasche mit Mineralwasser und ein halb volles Glas.
»Interessanter Ort, den Sie hier ausgesucht haben.«
»Als Student war ich einmal hier zur Abschiedsfeier eines Kommilitonen. Neulich kam ich zufällig vorbei und wunderte mich, dass er noch immer existiert. Ich dachte, hier wird um diese Tageszeit nicht viel los sein.«
Der Ober kam, Freund bestellte eine Melange.
Freund fand die Situation lächerlich, wie in einem Film. Aber wenn er so an Informationen kam …
»Ich habe die Todesanzeige in der Zeitung gesehen.«
»Meine Eltern bestanden darauf.«
»Wie haben sie die Situation aufgenommen?«
Freund hatte immer noch Mutter Dorin im Kopf, wie sie vom Leichnam ihres Sohnes fast davonlief.
»Gefasst. Was sollten sie sonst auch tun?«
Freund hätte da schon die eine oder andere Idee gehabt. Er hatte ganz andere Reaktionen erlebt. Mehr als einmal war er sogar geschlagen worden.
»Was ist denn nun so geheim, dass Sie es mir nicht in der Bank oder bei uns am Kommissariat erzählen wollen?«
Dorin trank einen Schluck Wasser. Er setzte zum Sprechen an, als der Kellner Freunds Kaffee brachte. Nachdem der Mann wieder gegangen war, sagte er: »Ich bin mir natürlich des Umstandes bewusst, dass Sie Ihre Ermittlungen führen müssen und sollen, wie Sie es für richtig halten. Im Rahmen des Möglichen möchte ich Sie trotzdem bitten, den Inhalt unseres Gesprächs, soweit es geht, vertraulich zu behandeln.«
Umständliche Höflichkeiten, dachte Freund, aber hören wir einmal weiter zu.
»Das hängt letztlich davon ab, was Sie mir erzählen wollen.«
Dorin räusperte sich, nahm noch einen Schluck Wasser, als wolle er sich damit Mut antrinken.
»Vorab sollte ich vielleicht noch etwas erklären: Nach der Einführung des neuen Stiftungsrechts vor ein paar Jahren bündelte unser Vater das Firmenvermögen in einer Stiftung. Sie hält nun die Anteile an den diversen Unternehmen, sei es in Form von Aktien oder anders. Neben steuerlichen Vorteilen sorgte er damit vor allem dafür, dass dieses Vermögen nach
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