Wienerherz - Kriminalroman
drei Tagen mit Ihrer Nachricht kamen.«
Mit einem Mal begriff Freund, was in dem Mann während der vergangenen zweiundsiebzig Stunden vorgegangen sein musste. Seit zwei Jahren hatte sein Bruder ihn mehr oder minder um Geld angefleht. Er hatte es nicht bekommen. Und jetzt war er tot.
»Sie verstehen, dass es mir unter diesen Umständen schwerfällt, darüber zu sprechen.«
Gleichzeitig begriff Freund, dass ihm Leopold Dorin ein Motiv für den Selbstmord seines Bruders präsentierte. Sofort wurde er vorsichtig. Er hatte Leopolds Bruder Viktor alias Peer Tann im Ohr: »Das wird meinen Bruder freuen.« Leopold Dorins Schilderung bekräftigte die Suizidvariante. Die Gefahr medialer Aufregung über den Tod des Societytiers, die mit weiteren Ermittlungen einherging, wäre gebannt, ganz im Sinne Leopold Dorins.
»Warum haben Sie mir das nicht schon vorgestern erzählt?«
»Ich musste erst mit der Familie darüber sprechen. Hier geht es immerhin um sehr intime und sensible Vorgänge, die sehr viele Menschen und große Summen betreffen. Was, glauben Sie, wäre los, wenn herauskommt, dass ein Dorin in Geldschwierigkeiten steckt? Die Medien machen da keinen Unterschied zwischen dem einen oder anderen. Und die Leser und Seher schon gar nicht. Wahrscheinlich müsste ich wochenlang die Kunden unserer Bank aufklären und beruhigen, dass wir in keiner Weise davon betroffen sind. Auch auf unsere Industriebeteiligungen könnte sich das negativ auswirken. Wenn Lieferanten glauben, dass Dorin nicht mehr zahlen kann, bekommen die Unternehmen keine Ersatzteile oder Rohstoffe mehr, Banken stellen Kreditlinien vorzeitig fällig, Kunden stornieren Bestellungen oder vergeben Aufträge an Mitbewerber, weil sie nicht mehr sicher sind, ob wir noch liefern können und so weiter. Daran hängen weltweit Zehntausende Arbeitsplätze. Das ist auch der Grund dafür, dass ich Sie darum bitte, mit diesen Informationen vorsichtig umzugehen.«
Wegen der Arbeitsplätze, natürlich. Nicht wegen deines Milliardenvermögens. Als könne er Freunds Gedanken von seinem Gesicht lesen, fügte Dorin hinzu: »Das können Sie mir jetzt glauben oder nicht. Tatsache ist: Ich könnte heute den ganzen Konzern verlieren, gleichzeitig beschließen, mich nur mehr dem Fliegenfischen oder dem Umweltschutz zu widmen, und müsste mir trotzdem keine Sorgen um mein Auskommen und das meiner Familie machen. Alle Probleme, die die Führung einer Unternehmensgruppe wie der unseren mit sich bringt, wäre ich auch auf einen Schlag los. Aber so denke ich nicht.«
Den letzten Satz hatte er mit Entschiedenheit ausgesprochen. Freund fragte sich, wie viel von diesem Plädoyer für unternehmerisches Verantwortungsgefühl er seinem Gegenüber abkaufen sollte. Natürlich hatten seine Argumente einiges für sich. Und selbst wenn man sie nicht gelten lassen wollte, warum sollte Freund einen Menschen, ob arm oder reich, in Schwierigkeiten bringen?
»Könnte Ihr Bruder deshalb am Abend vor seinem Tod bei Ihrem Vater gewesen sein?«
Immer dieser Blick, mit dem ihn diese Leute musterten, wenn er etwas fragte, was sie nicht beantworten konnten oder wollten.
»Möglich. Offensichtlich ohne Erfolg.«
»Sie wollen mir sagen, dass Ihr Bruder sich das Leben genommen hat.«
»Ich will Ihren Ermittlungen in keiner Weise vorgreifen, sondern Sie unterstützen, wo ich kann.«
Der Mann ließ sich nicht aufs Glatteis führen.
»Danke. Das haben Sie hiermit getan. Sie können versichert sein, dass Ihre Informationen bei uns gut aufgehoben sind.«
Dorin zeigte auf Freunds leere Tasse.
»Ich nehme nicht an, dass ich Sie auf Ihre frugale Konsumation einladen darf.«
»Sehr liebenswürdig, danke, das mache ich schon.«
Beim Hinausgehen musste Freund noch die Frage stellen.
»Haben Sie eine Idee, ob oder warum sich Ihr Bruder für Ihren Großonkel Cornelius interessiert haben könnte?«
»Gar keine«, erwiderte Dorin mit der ihm eigenen Unberührtheit. »Hat das etwas mit seinem Tod zu tun?«
»Wahrscheinlich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es tatsächlich der Fall war.«
Vor dem Lokal verabschiedeten sie sich. Freund wandte sich gerade zum Gehen, da sah er, wie sich Dorin bückte und eine Klammer an seinem rechten Hosenbein befestigte, wie sie Radfahrer manchmal verwendeten. Tatsächlich öffnete er das Schloss, mit dem ein hellblaues Rennrad, dessen Reifen so dünn wie Messerklingen waren, an einen Laternenpfahl gebunden war.
Dorin bemerkte Freunds Blick, und zum ersten Mal entdeckte er so
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