Wigges Tauschrausch
Geld für die Seide überwiesen hat und Ravi mir die erhofften Seidentücher ernsthaft geben möchte. Erst mal wird aber gequatscht, um miteinander warm zu werden. So gerne ich zum Thema kommen möchte, ich muss mich gedulden. Zum Glück sprechen wir bald über das Thema Tauschen. Ravi erzählt mir, dass vor 60 Jahren, kurz vor der Revolution unter Ghandi, der Zahlungsverkehr eingestellt und somit die Seide nicht mehr verkauft, sondern nur noch getauscht wurde. Dieses hatte den unerwarteten Vorteil, dass plötzlich jeder mit dem Zahlungsmittel Seide Tauschgeschäfte machen konnte, unabhängig von der Kaste, der er angehörte. Ravi erzählt weiter, dass nach dem Ende dieser Ära der Seidenverkauf wieder rein kastenorientiert ablief, Seide also nur noch innerhalb der Kasten verkauft wurde. Beeindruckend, welch positive Auswirkung der Tauschhandel auf menschliche Beziehungen haben kann!
Jetzt warte ich nur noch darauf, dass das auch zwischen Ravi und mir funktioniert. Ravi, komm schon, lass uns endlich zum Thema kommen, verdammt noch mal, denke ich. Kurze Zeit später dann die Erlösung. Er zeigt mir stolz zwei Saris, die als indische Brautkleider genutzt werden. Ich lächele und bestätige ihm, dass sie mit ihren Pailletten und Stickereien wirklich schön sind, bis mir klar wird, dass das sein Tauschangebot ist. Ich reagiere reserviert, denn indische Brautkleider kann ich in Australien, meiner nächsten Etappe, wohl kaum weitertauschen.
Ich erkläre Ravi die Situation höflich und bitte ihn, doch lieber große Mengen Rohseide gegen das Tuk Tuk zu tauschen. Glücklicherweise versteht Ravi die Problematik und kommt nach einiger Zeit mit 75 Metern angeblich feinster indischer Seide in sechs verschiedenen Farben zurück. Jedes der 12,5 Meter langen Seidentücher ist zu handlichen Päckchen gefaltet, so dass ich die 75 Meter in einem Karton mitnehmen kann. Ich kann zwar nicht mit Sicherheit sagen, ob der Seidentausch nun ein Erfolg war, da ich die Qualität der Seide als Laie nicht überprüfen kann. Aber Ravi scheint einen seriösen Eindruck zu machen, auch wenn ich mir für das Tuk Tuk eher hundert oder 200 Meter Seide gewünscht hatte. Trotzdem schätze ich meine Chance als gut ein, den Stoff in Australien tauschen zu können. Ich habe online recherchiert und erfahren, dass der Marktwert von Seide in Australien ungefähr vier- bis fünfmal höher ist als in Indien. Wenn ich es also schaffe, die Seide in Australien gut weiterzutauschen, kann ich durch den anstehenden Sprung in eine andere Kultur einen wichtigen Schritt nach oben machen.
Unser Luxusschrott im Slum
Bevor ich die Seide auf den australischen Tauschmarkt werfen kann, vergeht noch eine Woche in der 14-Millionen-Metropole Mumbai. Die Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt ist nur schwer zu ertragen, da sich am Straßenrand endlose Slums aus Blechhütten aneinanderreihen und überall bettelnde Menschen zu sehen sind. Ich hatte mich nach der Armut um Bangalore herum nicht auf noch schlimmere Bilder eingestellt. Aber das, was Mumbai zu bieten hat, ist einfach nur schockierend. Die nächsten Tage liege ich krank im Bett, wahrscheinlich wegen Bakterien, die durch das Essen in meinen Darm gelangt sind, vielleicht haben die Bilder der Armut meine Anfälligkeit aber auch noch verstärkt. Ich habe kaum Energie, vor die Tür zu gehen, und sehne mir den Flug nach Australien herbei. Doch höre ich mich auch um, wer von den 14 Millionen Menschen in Mumbai etwas mit Tauschkultur zu tun hat. Die Antworten gehen immer wieder in eine Richtung: der Slum. 55 Prozent der Einwohner dieser Stadt, also fast acht Millionen Menschen, leben in Slums, und dort scheint Tauschhandel wohl üblich zu sein.
So besuche ich Dharavi, den größten Slum Asiens, in dem auf gerade mal zwei Quadratkilometern angeblich eine Million Menschen leben sollen. Die Umstände dort sind, wie zu erwarten, desaströs. Armut, Blechhütten, enge Gassen, in denen die Stromleitung bis auf eine Höhe von 1,50 Meter auf die Straßen herunterhängt, stinkende Kloaken und überall Menschen, die mir alle ausgesprochen freundlich begegnen! Kinder wie Erwachsene kommen auf mich zugelaufen und wollen unbedingt mit mir aufs Foto. Wow, was für ein Empfang von Leuten, die wissen, dass ich um so vieles reicher bin als sie.
Später treffe ich Chandarei, eine ältere Frau, die auf ihrem Kopf eine große Schüssel mit Töpfen und Plastikschalen trägt. Sie erzählt mir, dass sie seit vierzig Jahren täglich Schüsseln und
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