Wigges Tauschrausch
mich das Aloha-Bild bis zu meinem Ziel auf Hawaii als Motivationshilfe begleiten soll. Einmal draufgeschaut auf das, was mich auf der schönen Insel hoffentlich erwartet, und alle Schwierigkeiten sind verblasst. Nun sieht der Blumenschmuck leider aus wie alte Friedhofsblumen, die wochenlang kein Wasser mehr gesehen haben. Schade.
So geht der erste Tag auf meiner Tauschrausch-Reise, an dem ich mich ganz dem Sightseeing hingegeben habe, zu Ende. Auch wenn das Bild kaputt ist, ich habe diesen Tag genossen. Zum ersten Mal seit Wochen konnte ich mir ein wenig Urlaub gönnen und mich tatsächlich entspannen.
Dann allerdings wird es Zeit, und ich springe in den nächsten Bus, um zwanzig Stunden später in der südindischen Millionenmetropole Bangalore anzukommen. Zur Seidenfabrik fahre ich mit dem Taxi. Während der Fahrt erzählt mir der Taxifahrer von den Lebensumständen in der Region. Er erzählt davon, dass es seit sechs Jahren nicht mehr geregnet habe und dass diese Gegend zu den ärmsten in ganz Indien gehöre. Ein Blick aus dem Fenster liefert mir die Bestätigung für das, was er sagt: verdorrte Landschaften und überall Armut. Die Straßenränder gleichen Müllhalden und Kloaken. Anstelle der vielen Autos, die Goa bevölkerten, sehe ich hier fast nur Fahrradfahrer. Alles wirkt sehr chaotisch. Überall sind Menschen, viele davon unglaublich arm, die sich hier mit irgendwelchen Tätigkeiten das Notdürftigste zusammenverdienen. Ich frage mich, ob ich ausgerechnet an diesem Ort versuchen sollte, mich weiter hochzutauschen. Die Menschen haben hier wirklich andere Probleme.
Mit einem unguten Gefühl betrete ich die Seidenfabrik, in der ungefähr zwanzig Frauen zwischen lautstarken Maschinen, in großer Hitze und bei schlechter Beleuchtung verschiedene Arbeiten in der Seidenproduktion verrichten. Hier geht es ganz offensichtlich nicht um Gewerkschaft, 35-Stunden-Woche oder Betriebsrat, hier sitzen zwanzig Frauen, die einfach das machen, was der knurrige Chef ihnen befiehlt. Der Chef weiß, warum ich hier bin, denn sein Kumpel will den Seidentausch mit mir abwickeln. Daher habe ich freien Zugang zur Fabrik.
Ich entscheide mich mitzuarbeiten, um als zukünftiger Seidenbesitzer auch etwas von Seidenproduktion zu verstehen. Also bekomme ich einen Eimer voller Kokons der Seidenraupe ausgehändigt. Diese Kokons sind circa zwei Zentimeter lang und bestehen aus einem weichen, weißen Flaum, welcher wiederum aus einem einzigen Seidenfaden besteht, der bis zu 600 Meter (!) lang ist. Im Inneren des Kokons befinden sich die Raupen, die in einem heißen Kochtopf abgetötet werden müssen. So stehe ich vor einem der heißen Kochtöpfe und drücke die Kokons immer wieder in das Wasser. Doch irgendetwas läuft schief. Der Vorarbeiter ist nicht gerade begeistert, als ich die Kokons aus dem Wasser hole und wieder hineindrücke, denn alles verklebt, bis ich schließlich nur noch eine weiße, klebrige Masse in Händen halte – so soll das Ergebnis definitiv nicht aussehen. Die Frauen stehen schüchtern im Hintergrund und lachen ängstlich hinter vorgehaltener Hand, da wohl noch niemand die Sache so gegen die Wand gefahren hat wie ich.
Beim nächsten Schritt geht es darum, den Seidenfaden der gekochten Kokons mit Hilfe einer Haspel, einem sich schnell drehenden Rädchen, auf eine Spule aufzurollen. Zu diesem Zweck wirft man den Kokon auf eine bestimmte Art und Weise gegen die Haspel, so dass diese den Anfang des Seidenfadens aufnehmen und ihn aufspulen kann. Das hinzubekommen ist noch um Etliches schwieriger als den Vorgang zu beschreiben, und das fällt mir schon schwer. Genauer gesagt, es ist für mich total unmöglich. Es vergehen zehn, zwanzig, dreißig Versuche, bis ich mit hochrotem Kopf aufgebe und die zwanzig Frauen die Sache mit Gekicher und Getuschel wieder übernehmen. Danach steige ich endgültig aus der Seidenproduktion aus und beobachte, wie der Seidenfaden an großen Webstühlen zu Seidentüchern verarbeitet wird.
Jetzt lerne ich auch endlich den Seidenproduzenten Ravi kennen, der ja mit Kalian, dem Arbeitskollegen von Wiebke, befreundet ist und mir mein Tuk Tuk gegen Seide eintauschen will. Er begrüßt mich höflich, sieht im Vergleich zum Vorarbeiter der Fabrik sauber gekleidet aus und wirkt sehr sympathisch.
»Aha, du bist also der Typ, der die Seide haben will!«, sagt er zur Begrüßung.
Mir fällt ein Stein vom Herzen, dass die Kommunikation mit dem Reisebürobesitzer Raj wirklich geklappt hat, er wohl das
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