Wigges Tauschrausch
uns gegenseitig eine halbe Stunde lang Angst einzuflößen. Joseph läuft sich warm, macht professionelle Dehnübungen, alberne Sprünge und sonstige Sachen, wie man es normalerweise wohl vor einem Olypmiafinale tut. Mir fällt nichts Besseres ein, als die Sprintbahn hoch und runter zu laufen und zwischendurch sogenannte Klappmesser zu machen. Das hab ich mal auf Bayern 3 in einer morgendlichen Gymnastiksendung gesehen und dabei zugehört, wie eine Frau mit Stirnband davon redete, dass man auch noch mit fünfzig wie zwanzig aussehen könne, wenn man diese Übung regelmäßig machen würde. Joseph beeindrucken meine Klappmesser-Übungen ziemlich wenig. Er möchte endlich losrennen, um die durch Dieter Baumann erlittene Schmach ungeschehen zu machen. Wir stehen an der Startlinie, um die 400-Meter-Bahn zweimal zu laufen. Einer der drei Zuschauer gibt das Startzeichen, und los geht es. Der Kommentator bei einer Live-Übertragung dieses grandiosen Rennens hätte sich ungefähr wie folgt angehört:
Auf die Plätze – fertig – los!
Wigge prescht in einem ungeheuerlichen Tempo nach vorne und grinst bereits siegessicher. Denn Keter hat Schwierigkeiten, kämpft mit seinen sechzehn Wasserflaschen. Keter liegt bereits jetzt schon unglaubliche dreißig Meter zurück. Wigge rennt und rennt. Der Rückstand vergrößert sich, fünfzig Meter, sechzig Meter Rückstand für Keter, der jetzt einhändig läuft, um den Rucksack festzuhalten. Was für eine grandiose Titelverteidigung im Namen Dieter Baumanns und für Deutschland. Außenseiter Wigge muss heimlich trainiert haben.
Aber jetzt, Wigge lässt sich durch den Traktor – was macht dieser Traktor hier? – ablenken und kommt aus dem Rhythmus. Keter nutzt seine Chance sofort, die Fans jubeln, selbst die Inhaftierten staunen, Keter holt langsam auf, und Wigge wird nervös. Er hat sich übernommen. Keter nun komplett ohne Armbewegungen, was für ein ungewöhnlicher Laufstil. Nur noch zwanzig Meter Rückstand. Wigge schaut sich um, Keter kommt weiter heran, er sieht die Lücke – wie damals Dieter Baumann. Wigge mach zu, Wigge mach zu! Aber nein, Keter zieht vorbei und schlägt Wigge. Wigge stürzt auf der Zielgeraden und Deutschland ist geschlagen. Kenia hat seine Ehre wiederhergestellt. Und Deutschland ist geschlagen …
Ich liege absolut kaputt, keuchend, schwitzend und wild atmend kurz hinter der Zielgeraden, als Joseph grinsend und entspannt zu mir herüberkommt und mir zur deutsch-kenianischen Versöhnung die Hand reicht und mich freudig umarmt.
Ein toller Moment, zumal er uns beide glücklich macht. Mich, weil ich es mir nie erträumt hätte, gegen einen echten Goldmedaillengewinner nur um wenige Zehntelsekunden zu verlieren, und Joseph natürlich, weil er die Schande von 1992 endlich hinter sich lassen kann. Was könnte man Besseres zum internationalen Austausch beitragen?
D eutschland
S o sitze ich mit meinem Reisegutschein und einem heftigen Muskelkater in einer Linienmaschine von Nairobi nach Frankfurt. Ich bin guten Mutes, da ich mir gute Tausch-Chancen während meines kurzen Zwischenstopps in Deutschland ausrechne. Schließlich habe ich mehrere Strategien, wie ich die Menschen auf die große Reisegutschein-Tausch-Chance aufmerksam machen kann.
Das Internet: Ich produziere einen Videoaufruf, den ich in meinen Reiseblog stelle, um dort die Leser mit attraktivem Bewegbild von meinem Tausch zu überzeugen. Dasselbe Video poste ich auch in Facebook (habe mittlerweile schon 651 »echte« Freunde). Zusätzlich setze ich Tauschaufrufe in über zwanzig Reise- und Tauschforen.
Die Straße: Nach vier Monaten Tauschrausch ist dieser Ort mein Spezialgebiet. Leute ansprechen, Leute festhalten und Leute zum Tausch überreden. Ich bin voller Selbstvertrauen und fühle mich der Herausforderung gewachsen.
Die Medien: Ich arbeite nun seit zehn Jahren in der Medienbranche und habe einige Kontakte. Deshalb schicke ich an zwanzig Zeitungen, Radiostationen und TV -Sender Anfragen, zwecks Tauschaufruf in einem Interview.
» Was soll bei so einem breitgefächerten Masterplan überhaupt noch schiefgehen?«, frage ich mich.
Im sommerlichen Berlin vergehen fast zwei Wochen im immer gleichen Rhythmus: Computer an, Blog nach Kommentaren checken, rein in die Reiseforen und checken, Mails an Medien verschicken, Facebook checken, frustriert den Computer wieder ausmachen. Und dann tue ich, was ich so gar nicht tun wollte. Um mir die enttäuschenden Tage ohne Tauschangebote zu verschönern,
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