Wikinger meiner Träume
entschlossen, die Ereignisse zu beobachten.
Dragon setzte sich auf den Stuhl mit der hohen Lehne, den er bei den Mahlzeiten benutzte. Aus diesem Anlass war er vor die herrschaftliche Tafel gestellt worden, für alle Anwesenden sichtbar. Der aufgeregte Kaufmann bahnte sich gebieterisch einen Weg durch die Menge, von seiner eigenen Wichtigkeit überzeugt, und ergatterte einen Platz in der Nähe des Jarls. Empört starrte er den Jungen an, der zu seinem Richter geführt wurde.
Schweren Herzens bemerkte Rycca das unverhohlene Entsetzen des Jungen, denn es würde den Verdacht gegen ihn noch erhärten. Eine Zeit lang musterte Dragon ihn schweigend. Unter diesem forschenden Blick hätte sich so mancher erwachsene Mann zusammengekrümmt. Stattdessen hielt der Junge den Kopf hoch erhoben. Noch erstaunlicher - er schaute dem mächtigen Kriegsherrn, der über Leben oder Tod entscheiden würde, unverwandt in die Augen.
»Wie heißt du?«, fragte Dragon schließlich.
»Olav, Mylord«, antwortete der Junge mit bebender Stimme, aber klar und deutlich.
»Aus welcher Familie?«
»Ich gehöre zu den Ragnarsons, die in Hedeby leben.«
Langsam nickte Dragon. Der Junge entstammte dem größten Handelszentrum von Jütland - ein Däne, aus einer angesehenen Familie. Bei jedem Urteilsspruch musste der Jarl das Für und Wider sorgfältig abwägen. Doch in diesem Fall war besondere Vorsicht geboten. »Warum hast du Master Trygyv auf seiner Reise begleitet?«
Als der Kaufmann antworten wollte, brachte Dragon ihn mit einer knappen Geste zum Schweigen. »Ihr werdet bald zu Wort kommen, Master Trygyv. Jetzt soll der Junge sprechen.«
Der Angeklagte zögerte, die Wangen feuerrot. Widerstrebend erklärte er: »Da ich Hedeby für eine Weile verlassen musste, fragte ich Master Trygyv, ob ich auf seinem Schiff arbeiten dürfe, und er stimmte zu.«
»Ich verstehe. Und wieso hast du deiner Heimat den Rücken gekehrt?«
Unsicher kaute der Junge an seiner Unterlippe, und der übereifrige Händler wollte sich wieder einmischen. Nur Dragons strenger Blick hielt ihn davon ab.
»Ich erregte den Unmut meines Vaters«, gestand Olav nach einer langen Pause. »Und da sagte er, ich soll ihm aus den Augen gehen.«
»Womit hast du diesen strengen Tadel verdient?«, fragte Dragon.
»Nun ja - ich wollte die Frau, die er für mich ausgesucht hat, nicht heiraten.«
Erst vor kurzer Zeit mit einem ähnlichen Problem konfrontiert, verbarg Dragon seine Überraschung. »Ein ehrenwerter Sohn gehorcht seinem Vater.«
»Oh, ich bin ehrenwert!«, stieß Olav hervor. »Aber es gibt gewisse Grenzen.« Er schaute sich um, in der Hoffnung, jemanden zu entdecken, der ihm zustimmen würde. Doch er sah nur abweisende Mienen. Verzweifelt fuhr er fort: »Die Lady ist zwanzig Jahre älter als ich, dreimal verwitwet. Außer ihrem Reichtum weist sie keinerlei Vorzüge auf. Darf man mich verdammen, wenn ich mir eine Braut wünsche, die nicht nur Geld und Gold in mein Haus bringt?«
»Und in dein Bett!«, rief jemand, und das Publikum lachte. Verwirrt runzelte Olav die Stirn, dann brachte er ein schwaches Lächeln zustande.
»Um deine persönlichen Probleme geht es hier nicht, meine Junge«, entschied Dragon, »sondern um den wertvollen Kelch. Master Trygyv glaubt, du hättest ihn entwendet.«
»Das weiß ich!«, schrie der Kaufmann. Jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Mit einem dicken Finger zeigte er auf den unglücklichen Olav. »Wider mein besseres Wissen nahm ich ihn auf die Reise mit,^us reinem Mitleid. Ich bot ihm eine Gelegenheit, seine Ehre zu retten - vielleicht sogar, auf eigenen Füßen zu stehen und im Wohlstand zu leben. Und wie hat er mir die Güte gedankt? Er stahl mir ein Vermögen, mit dem ich ein Drachenschiff bezahlen könnte!«
»Dann muss es ein sehr großer Kelch sein«, bemerkte Dragon trocken. »Wo könnte Olav ihn versteckt haben?«
»Keine Ahnung, Lord Dragon. Erst vor wenigen Stunden ankerten wir im Hafen Landsende, und danach war ich beschäftigt. Also fand er genug Zeit, um den Kelch von Bord zu schmuggeln und ihn irgendwo an dieser Küste zu verstecken.«
»Master Trygyv, das ist eine schwere Beschuldigung. Damit deutet Ihr an, ein Bewohner meiner Stadt müsste sich mit einem Dieb verbündet haben.«
Etwas verspätet erkannte der Händler, wie unklug es war, einen so mächtigen Jarl zu verärgern. »Viele Leute kommen hierher, verehrter Lord Dragon«, betonte er hastig. »Seid versichert, ich verdächtige keine Einheimischen,
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