Wikingerfeuer
verlorenen Heiligen Land …
Nur die Stille des Wikingerdorfes umgab ihn. Diese Luft war kalt und klar. Tief sog er den Atem ein. Durst verspürte er tatsächlich. Schlimmer war jedoch die Kälte. Yngvarr hatte ihm eine Decke zugestanden, einen knielangen, fadenscheinigen Lumpen, den er in der Mitte aufgerissen hatte, damit Rouwen ihn sich wie eine Tunika überziehen konnte. Er saß an einer Ecke an der Außenseite des Langhauses, die Hände über dem Kopf gefesselt. Dort waren mehrere Eisenringe in die Balkenwand eingehauen, vermutlich für Reitpferde.
Rouwen bewegte die tauben Finger, um den Blutfluss anzuregen. Doch die Lederschnüre, mit denen er an einen der Ringe gebunden war, saßen straff. Vergebens hatte er daran gezerrt; sie hatten sich nur schmerzhaft in seine Handgelenke gegraben.
Erst festgebunden am Schiffsmast, jetzt hier, und jedes Mal leide ich Durst, als müsse ich dafür büßen, das Elend von Hattin überlebt zu haben.
Das Knurren seines Magens ging unter im Schnarchen der Männer, die sich drinnen nach dem Festgelage schlafen gelegt hatten. Einige waren auch herausgewankt und in ihren Hütten verschwunden. Allein ein Türwächter harrte einige Schritte entfernt aus und verlagerte gelegentlich sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
Ein Windstoß trieb Rouwen Schnee ins Gesicht. Der Morgen war nicht mehr fern. Er begann sich zu fragen, was der neue Tag bringen würde. Er hatte den Sohn des Häuptlings bedroht – das wurde gewiss nicht nur mit einer unangenehmen Nacht im Freien bestraft. Wenn die Sarazenen Ohren oder gar Füße ihrer Geiseln abhackten und ins Abendland schickten, um der Forderung nach Lösegeld mehr Nachdruck zu verleihen, dann war dergleichen einer Wikingerhorde vermutlich auch zuzutrauen.
Das Knarren der Tür riss ihn aus seinen freudlosen Gedanken. Eine schmale Gestalt huschte heraus. Sie wandte sich kurz an den Torwächter, der ehrerbietig seinen Speer hob. Dann schlurfte sie, die Arme fest um sich geschlungen, zu Rouwen.
In drei Schritten Entfernung blieb sie stehen, als könne er seine Fesseln plötzlich zerreißen und auf sie zuspringen. Helle Strähnen schimmerten in der fahlen Düsternis. War das etwa der Wirbelwind?
Es war der Junge.
Lange stand er da, ohne sich zu rühren. Ob er wohl ein Messer hinter dem Rücken verbarg? Unauffällig verlagerte Rouwen das Gewicht, um den Jungen notfalls mit einem gezielten Tritt wegstoßen zu können. Andererseits glaubte er nicht, dass Arien Rachegedanken hegte. Eine solche Tat traute er dem aufgeweckten Jungen eigentlich nicht zu. Aber warum war er hier? Rouwen wartete, dass er endlich etwas sagte.
Arien hustete.
»Steck mich nicht an«, brummte Rouwen. »Ich hole mir hier eh schon den Tod.«
Das folgende Geräusch klang, als versuche der Junge, ein Prusten zu unterdrücken.
»Verschwinde, wenn du nichts anderes vorhast, als mich anzuglotzen. Das kannst du sowieso besser, wenn es hell ist.« Rouwen atmete tief ein. Es war alles andere als klug, so respektlos mit dem Sohn des Häuptlings zu reden. Und es war auch nicht seine Art. Aber die vergangenen Tage hätten wohl selbst einen Heiligen dazu gebracht, seine Sanftheit abzulegen. Er atmete noch einmal ein und aus, um seinen Groll herunterzuschlucken. Arien hatte an seinem Elend den allergeringsten Anteil.
»Ich wollte nur …«, murmelte der Junge, brach dann aber mitten im Satz ab.
»Habe ich dir sehr weh getan?«, fragte Rouwen zögernd. Er sah ein Kopfschütteln. »Ich hätte dir nichts getan«, fügte er an.
Arien kam zwei vorsichtige Schritte näher und kauerte sich auf die Fersen. Ganz deutlich glänzten seine großen Augen in der Dunkelheit. »Ich hatte Angst.« Es war kaum mehr als ein Flüstern. »Ihr seid ein großer, starker Krieger.«
Rouwen neigte sich so weit vor, wie seine Fesseln es erlaubten. »Weißt du, was man mit mir vorhat?«, fragte er leise. Rasch sah er zu dem Torwächter hinüber, der sich straffte, jedoch nicht wagte, dazwischenzugehen. Der Respekt vor dem Häuptlingskind war groß. Dass Baldvin seine Kinder vergötterte, war Rouwen in der kurzen Zeit seiner Gefangenschaft nicht entgangen.
»Vater sagte, Ihr werdet einige Tage hier draußen zubringen«, erwiderte Arien dann auch arglos. »Und ins Warme kommt Ihr erst zurück, wenn Ihr gesagt habt, wer Eure Familie ist. Wegen dem Lösegeld.«
Rouwen lehnte den Kopf an die Hauswand und schloss die Augen. Familie? Seine Mutter hatte nie davon ablassen können, ihn zu lieben. Sein Vater
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