Wikingerfeuer
jedoch … Dieser Narr Baldvin hatte ja nicht die geringste Ahnung.
»Aber er sagte es in der ersten Wut«, fügte Arien an.
Rouwen fragte sich, wie er die nächsten Tage überstehen sollte. Die Nacht war schlimm gewesen. Bei jedem Windstoß fühlte er sich wie von hundert Teufelsgeistern gebissen. Sein Hintern schien sich in einen Stein aus Eis verwandelt zu haben. Zu allem Übel hatten sich die Schneeflocken im Laufe der Nacht in Regen verwandelt, der seine armselige Decke rasch durchnässte. Dass er zur Bewegungslosigkeit verdammt und später am Tage dem Gespött der Leute ausgesetzt wäre, war dabei seine geringste Sorge. Das würde er irgendwie mit Stolz ertragen.
»Kannst du mir etwas zu essen bringen? Nur eine Kleinigkeit.«
Angespannt hielt er den Atem an. Er hoffte, dass der Junge ihm diesen Gefallen tun würde. Falls der Wächter es verhinderte, so war dies zumindest ein Hinweis, dass Baldvin vorhatte, seinen Gefangenen bis aufs Äußerste zu quälen.
Arien sprang wortlos auf und huschte durch den Türspalt, den der Torhüter ihm öffnete, ins Haus. Kurz darauf kehrte er mit nichts als einem kleinen Holzbecher zurück. »Ich hab nur ein bisschen Wasser mitgebracht.« Es klang fast wie eine Entschuldigung.
»Ich soll nicht nur hier draußen hocken und frieren, sondern auch darben, nicht wahr?«, fragte Rouwen geradeheraus.
Zögernd nickte der Junge. Er hielt ihm den Becher an die Lippen.
Bei Rúna hatte er es abgelehnt, auf diese Art zu trinken. Aber den Jungen abzuweisen, der ihn bang ansah, brachte er nicht über sich. Also löschte er schnell den Durst, bevor der Mann, der neugierig herüberstarrte, doch noch eingriff. Entwürdigend war es dennoch. Es gelang Rouwen nicht, sich ein Dankeswort abzuringen.
Eben noch hatte Arien nur eine Tunika angehabt, doch auf dem Weg ins Haus war er anscheinend auf den klugen Gedanken gekommen, sich einen Umhang mitzubringen, und so kauerte er sich nun wieder einige Schritte von Rouwen entfernt nieder, nur dass er sich diesmal einmummeln konnte – ein Anblick, der Rouwen noch schlimmer frieren ließ.
»Ich würde immer noch zu gerne wissen, was das Kreuz auf Eurem Arm bedeutet«, sinnierte der Junge. »Warum ist es blutrot?«
»Eigentlich tragen nur die Kreuzfahrer ein rotes Kreuz. Aber der Papst gewährte uns Tempelrittern, es immer zu tragen, weil wir uns im Grunde immer in einem Kreuzzug befinden. Vollständig nennen wir uns den Orden der armen Ritter Christ vom Tempel Salomons.« Noch während er sprach, ahnte er, dass der Junge nichts davon verstand.
Arien machte in der Tat große Augen. »Ich weiß, was ein Kreuzzug ist«, sagte er. »Und ein Tempel, das ist ein Gebäude aus der Römerzeit. Darin haben sie ihre Götter angebetet. In England soll es sogar heute noch welche geben. Und Brücken und Straßen …«
»Auch der wahre Gott hatte einen Tempel. In Jerusalem. Den haben die Römer allerdings zerstört. Später erbauten die Sarazenen dort ihre Kultstätten.« Und seit der Niederlage bei Hattin herrschten sie wieder auf dem Tempelberg, aber Rouwen hatte nicht die Absicht, diese Dinge weiter auszuführen.
»Sarazenen sind Heiden wie die Römer, oder?«
»Heiden ja, aber ganz anders.«
»Und …«
»Nein«, unterbrach Rouwen ihn. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, wenn er einige Dinge in Erfahrung bringen wollte. Aus zweien der Häuser waren bereits Frauen gekommen und hatten Eimer fortgetragen, wahrscheinlich mit der nächtlichen Notdurft. Bald würde sich das Dorf mit Leben füllen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Arien verschwand, um seinen eigenen Beschäftigungen nachzugehen. »Beantworte jetzt auch mir ein paar Fragen: Wer seid ihr, und warum lebt ihr hier?«
»Hier haben schon immer Menschen gelebt.«
»Nein – warum leben Wikinger hier? Norweger und Dänen sind vor weit mehr als hundert Jahren endgültig christlich und sesshaft geworden. Männer, die auf schnellen Booten aus dem Norden kommen und Dörfer und Klöster an englischen Küsten überfallen, die kannte man nur noch aus Geschichten. Im Norden Schottlands kam das vielleicht noch vor, aber, bei Gott, das waren doch nur irgendwelche Räuber.«
»Unsere Krieger sind nicht irgendwelche Räuber!«, empörte sich Arien. »Es sind Wikinger!«
»Dass es welche sind, habe ich ja nicht bestritten.« Rouwen schnaufte vor Ungeduld und wegen dieser beißenden Kälte, die sich um seine Knochen gelegt hatte. »Aber warum … «
Arien drehte sich um, als eine in einen pelzverbrämten Umhang
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