Wikingerfeuer

Dolch.«
    Er schob ihn über den Tisch. Etwas so Fremdartiges hatte Rúna noch nie gesehen. Auch Arien reckte den Hals. Die Klinge dieses Dolches war gebogen und so blank poliert, dass sie jede Einzelheit ihres Gesichts erkennen konnte. Auf den vergoldeten Griff waren verschlungene Zeichen eingraviert, die an die Schnitzereien an den hiesigen Türstöcken erinnerten und doch ganz anders waren. Die Parierstange war geschwungen, als sei sie der Stiel einer Blüte, der sich im Wind gebogen hatte und nun erstarrt war. Überall blinkten eingelassene Juwelen.
    »Den hatte der Engländer in seiner Truhe«, erklärte Baldvin und strich sich selbstzufrieden über den Bart. »Jetzt ist er dein.«
    »Danke«, murmelte Rúna. »Er ist wirklich wunderschön.«
    »Woher der wohl ist?«, überlegte Arien. »Man könnte meinen, er sei aus … aus einem Zauberland. Im Frankenreich machen sie so was nicht.«
    »Tu nicht so klug.« Der Vater gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Das ist ein Sarazenendolch. Genaueres wird uns der Engländer schon noch sagen.«
    Behutsam, als könne sie das Zauberwerk beschädigen, glitten ihre Fingerkuppen über den Griff und ertasteten die kleinen roten Steine. Sie waren wie die erstarrten Augen kleiner Drachen. Man nannte sie Rubine, wenn sie sich nicht irrte. Und die Augen des Engländers sind aus Bernstein … Sie umschloss den Griff so fest, dass ihre Finger schmerzten.
    »Er wird nie reden, Vater! Siehst du das nicht?«
    »Ich sehe einen Mann, der danach schreit, dass man ihm den Stolz austreibt. Er ist ein Christ! Die sind nicht so stark, wie sie manchmal tun. Morgen wird er um etwas zu essen und um Wasser betteln.«
    Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache. »Aber … Vater! In ihren alten Geschichten sind es doch gerade die Christen, die sich eher totschlagen lassen, als eine Handbreit nachzugeben und die alten Götter anzubeten.«
    »Geschichten! Pergament ist ein lügnerisches Kind, hat einmal ein kluger Mann gesagt. Erst recht das der Kreuzanbeter.«
    Bekräftigend hob er sein Horn und trank. Rúna seufzte innerlich auf. Ihr Vater verschloss sich der Vernunft, wenn es um die Anhänger des angenagelten Gottes ging. Bei allen Asen und Wanen, dieser alte Hass würde nie ein Ende finden!
    »Arien hat gesagt, Yngvarr hätte dem Engländer, als er am Mast festgebunden war, ein Messer so dicht an ein Auge gehalten, dass nur eine Fingerbreite gefehlt hätte, es ihm auszustechen. Und der Mann hat nicht einmal gezuckt.«
    »Stimmt«, warf Arien ein.
    Baldvin brummte nur.
    »Er wird nicht reden, Vater. Diese Augen haben schon mehr gesehen als nur eine Klingenspitze.«
    Er knurrte in seinen Bart. »Du hast doch noch gar keine Ahnung vom rauen Leben, und von den Männern auch nicht. Woher willst du das also wissen?«
    Sie hob die Schultern. »Ich weiß es eben.«
    »Jaja, in jungen Jahren meint man, alles zu wissen. Wie auch immer, du willst, dass ich dem Mann zu essen gebe, stimmt’s?«
    Rúna zeigte ihr schönstes Vater-ich-liebe-dich-Lächeln. »So ist es.«
    Zugleich fragte sie sich, was ihr eigentlich daran lag. Dieser Mann war ein Beutestück, nichts weiter. Zumal eines, das ihre Hilfe gar nicht verdiente, da er sie verachtete – das hatte sie heute früh, als er Athelna bewundernd hinterhergestarrt, sie jedoch abschätzig gemustert hatte, ganz deutlich erkannt.
    »Nein«, Baldvin schlug das Horn auf die Tischplatte und erhob sich. »Morgen redet er. Und jetzt, meine lieben Kinder: Schlaft gut.«
    »Lass ihn wenigstens im Pferdestall anbinden.« Sie begriff wirklich nicht, was sie dazu brachte, es noch einmal zu versuchen. »Da ist es nicht so kalt …«
    »Nein!« Er stapfte zu der seitlichen Tür, hinter der eine Treppe hinauf in sein Gemach führte, und riss den Vorhang beiseite.
    Sie sah ihrem Vater nachdenklich hinterher, bis sie Ariens fragenden Blick auf sich spürte. Sie zuckte nur mit den Achseln. Am besten verschwendete sie keinen Gedanken mehr an den Engländer. An Rouwen.

5.
    W ar es der zweite Tag? Der dritte? Oder hockte er schon einen Monat hier? Das wohl nicht, doch es fühlte sich so an. Sein Magen hatte irgendwann aufgehört zu knurren. Die Kälte nahm er mittlerweile nicht mehr wahr, ebenso wenig die Glieder seines Körpers. Der Rumpf existierte noch, ja, allerdings schien er sich in gefrorenen Stein verwandelt zu haben. Was er jedoch mit aller Macht spürte, war die Gier nach Wasser.
    Seine Zunge schien zu doppelter Größe angeschwollen. Er schaffte es nicht mehr,