Wikingerfeuer
besäße er eine normale Größe? Baldvin trat einen Schritt zur Seite und überließ seiner Tochter die schwere Pinne. Mit Feuereifer legte sie sich ins Zeug. Ihre Armmuskeln und Sehnen spielten ein interessantes Spiel. Die Zartheit einer Dame, die ihre Zeit in einer Kemenate zubrachte, fehlte ihr völlig. Aber anders, so musste es sich Rouwen eingestehen, hätte er sie auch nicht gewollt. Sie war vollkommen.
»Du gerätst aus dem Takt, Mann«, knurrte es dicht hinter ihm.
Er lenkte den Blick wieder geradeaus. Gestern früh waren sie aufgebrochen und waren schnell an den Orkneys vorbei an die einsame schottische Küste gelangt. Rouwen hatte getan, was alle taten: rudern, bis zum Gotterbarmen Wasser schöpfen – was bei diesen tief liegenden Wikingerschiffen unabdingbar war – und am Ufer die Zelte aufbauen. Nur zum nächtlichen Wachdienst war er nicht eingeteilt worden. Yngvarr hatte die Männer angewiesen, ihn im Auge zu behalten.
»Du bist schlecht gelaunt, mein Wirbelwind«, hörte er Baldvin sagen. Eigenartig, um Rouwen rauschten der Wind und die Wellen, die Ruder und das Takelwerk knarrten, und überall wurde geredet und gelacht. Trotzdem entging ihm kein Wort, das dort hinten gesprochen wurde. »Warum, Tochter? Das Wetter ist prächtig, und du hast endlich deine ersehnte Fahrt. Die Männer sehen noch mehr zu dir auf, seit du Sverri im Kampf eine Oberschenkelwunde beigebracht hast. Von der ich im Übrigen hoffe, dass sie gut verheilt, denn wir brauchen ihn ja.«
»Es ist wegen des Engländers.«
Sie sprach leise, und dennoch hörte er alles.
»Ja, mir ist auch nicht ganz wohl, wenn ich daran denke, dass ich ihn zu einem Verbündeten gemacht habe. Aber die Runen haben gesprochen, die Entscheidung war richtig. Und er hat noch keinen Handgriff getan, den man ihm als wortbrüchig auslegen könnte. Sogar die Männer scheinen ihn zu akzeptieren, jedenfalls saß er gestern am Lagerfeuer nicht abseits. Hallvardr wollte ihm sogar einen Thorshammer schenken.« Baldvin lachte rau. »Der Engländer hat ihn angesehen, als hätte er ihm vorgeschlagen, mit ihm das Lager zu teilen.«
»Schön, dass alle so heiter sind!« Sie ächzte, und die Pinne knarrte. Rouwen glaubte beinahe hören zu können, wie sie mit den Zähnen knirschte. Sie vermochte seine Zurückweisung nicht zu verwinden.
»Yngvarr allerdings traut seinem Schwur nicht«, brummte Baldvin.
»Dabei könnte er es bedenkenlos«, fauchte sie. »Rouwen hält jeden Schwur. Jeden.«
Der Hohn in ihrer Stimme tat Rouwen weh. Er konnte ihr nicht sagen, was das alles für Schwüre waren, die seine Seele belasteten. Und wenn sie es wüsste – es würde sie kaum trösten.
»Lass mich das Ruder wieder übernehmen, Tochter. Und dann gehst du … was war das?«
»Was?«
»Hast du es nicht auch gehört?«
»Was denn?«
»Es klang ganz nach … Bei Odins Raben, wenn er hier ist, dann … dann …« Baldvin stieß einen Schrei aus. Rouwen sah über die Schulter. Der Häuptling sprang von der Plattform, tauchte in den halbhohen Lagerraum darunter und hatte einen Herzschlag später niemand anderen als seinen Jungen herausgezerrt.
»Arien!«, brüllte er. »Deine verdammte Husterei könnte man unter hundert erkälteten Leuten heraushören! Was machst du hier?«
»Ich hab mich …«, krächzte der Junge – weiter kam er nicht, denn sein Vater verpasste ihm zwei Backpfeifen, dass sogar Rouwen die Ohren klingelten.
»An Bord geschlichen hast du dich! Und jetzt sind wir zu weit, um deinetwegen kehrt zu machen.« Baldvin schüttelte den armen Bengel am Halsausschnitt seiner Tunika. »Warum? Nein, sag’s mir nicht, ich will es gar nicht wissen. Ins Wasser sollte ich dich werfen, dass es dich geradewegs ins Eisreich Niflheim hinabzieht! Was fange ich jetzt mit dir an?«
Alle hatten ihre Tätigkeiten unterbrochen und sahen hinüber. Lediglich die Ruderer arbeiteten weiter, wenn auch die meisten wie Rouwen die Köpfe gedreht hatten. Zornig funkelte Baldvin seine Mannschaft an. »Was glotzt ihr? Und du, Engländer! Du gerätst aus dem Takt!«
Rouwen fing Rúnas Blick, bevor er sich wieder nach vorne drehte. Er sandte ihr ein Lächeln, hoffte, sie möge es erwidern.
Er war sich nicht sicher, was er in ihrem Gesicht sah, aber ein Lächeln war es nicht.
Arien barg den Kopf an ihrer Schulter. Rúna wusste, dass er es ebenso sehr tat, um Trost zu suchen, wie um die wütenden Tränen zu verbergen, die er nicht ganz zurückhalten konnte. Sie klopfte ihm auf den Rücken. »Du
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