Wild (German Edition)
nicht einmal darüber nachdenken, was sie dachten, worüber sie sprachen. Was sie wussten.
Gabriel winkte mich zu sich. »Heute.« Er dämpfte seine Stimme, aber vielleicht kam mir auch alles nur gedämpft vor. »Jetzt. Sie werden mit dem Hubschrauber herkommen, um ihre Jäger zu suchen. Wir müssen unseren Plan jetzt sofort durchziehen, während Paulus abwesend ist.«
Schon stand Orion neben mir. »Lass Pia in Ruhe. Sie ist verletzt.«
Ich hatte mich am Seeufer gewaschen, aber offenbar nicht das ganze Blut wegbekommen. »Nein«, sagte ich, »nein, mir geht es gut«, während meine Beine sich anfühlten, als seien sie aus Gummi, während ich schwankte wie ein Schilfrohr im Wind.
Orion streckte die Hand aus. »Was ist das?« Er berührte mein Haar und von meiner Stirn breitete sich eine Welle aus, die das Wissen in jede Zelle meines Körpers trug. Er ist hier, bei mir.
Ich wollte sterben. Wenn er mich in die Arme nahm, würde es leicht sein, das wusste ich. Leichter als atmen.
»Nichts«, flüsterte ich.
Er wusste, was ich getan hatte. Ich sah das Wissen in seinen nachdenklichen Augen.
Und Gabriel wusste es auch. »Sorg dafür, dass dein Vater uns die Probe bringt. Und dass Lucky bereit ist.«
»Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Siehst du nicht, wie es ihr geht?«, fragte Orion schroff, während ich Gabriel nur benommen anstarren konnte.
»Gut genug für einen glaubwürdigen Anruf bei ihrem Vater«, sagte Gabriel. »Und bei ihrem Freund.«
»Nein!«, rief Orion. »Pi, jetzt hör mir zu. Lucky ist auch mein Freund, das weißt du. Aber das hier kann ich nicht zulassen. Du darfst nicht Gabriel und Jakob für Lucky opfern!«
Konnte ich von irgendjemandem erwarten, sein Leben für meine Liebe aufs Spiel zu setzen? Für Lucky, den Gabriel nicht einmal kannte? Der Schmerz in mir, der wie eine gigantische Sonne alles andere überstrahlte und auslöschte, sagte ja. Ich wollte Lucky. Ich brauchte Lucky.
»Wo ist der Tom?«, fragte ich. »Ich werde Lucky sagen, dass er sich auf dem Dach des Kids-for-freedom-Hochhauses einfinden soll. Da oben kann ein Hubschrauber bestimmt gut landen.«
»Lucky wird nicht begreifen, wie wichtig und eilig es ist«, sagte Orion eindringlich. »Und um ihn abzuholen und zwangsweise mitzunehmen, wird Gabriel die Zeit fehlen. Ist dir klar, was mit ihm geschieht, wenn sie ihn erwischen? Hast du die Plakette vergessen? Er ist Neustadt-Freiwild! Du darfst ihn nicht dazu überreden, Pi. Du darfst nicht.«
Wenn es einen Menschen gibt in Neustadt, hinter dem Zaun, einen einzigen Menschen, für den du alles tun würdest – wie weit würdest du gehen? Würdest du alle deine Freunde opfern, um ihn zu retten? Würdest du ihm die ganze Welt zu Füßen legen, in die Glut der Vernichtung? Und wenn du es tätest, zu wem würde er zurückkommen?
Er hat recht, sagten die klaren Gedanken. Aber es gibt noch eine Option, weißt du? Eine, die Gabriel und Jakob nicht mehr gefährdet, als diese ganze verrückte Aktion es ohnehin tut.
Ich atmete tief durch. »Dies ist auch mein Kampf gegen die Regs«, sagte ich. »Ich werde euch helfen, Gabriel, ohne Bedingungen. Mir ist klar geworden, dass ihr Lucky nicht mitbringen könnt.«
»Pi, was hast du vor?«, fragte Orion leise. Wie dumm, anzunehmen, ich könnte ihn hinters Licht führen. Er wusste natürlich sofort, dass ich selbst gehen wollte. Aber wie hätte ausgerechnet er mich daran hindern können? Er, dessen Hand immer noch auf meinem Haar verweilte, als wäre ich eine seiner Wildkatzen. Wenn mich irgendjemand retten konnte, war es Lucky.
»Ich mache es«, sagte ich zu Gabriel, der erleichtert nickte.
Orions Lächeln hatte immer noch keine Strahlkraft, war wie ein roter Kratzer in seinem Gesicht. Heute war sein Lächeln nicht jung. Von dem Jungen, der mit mir auf die Schule gegangen war, der immer vor dem Wartezimmer des Arztes neben mir gesessen hatte, war erschreckend wenig übrig. Aber auch die Pi, die ich einmal gewesen war, war verschwunden, und mir blieb nur die einzige Hoffnung, sie in Neustadt wiederzufinden.
Um uns her zogen die Menschen los, verstreuten sich in alle Richtungen, um den Jägern kein Ziel zu bieten. Keine Herde, die von einer Wasserstelle zur nächsten wanderte, kein Vogelschwarm auf dem Weg nach Süden, sondern kleine Grüppchen, schwerfällig und beladen. Flüchtig fragte ich mich, wie Ricarda zurechtkam, mit Benni und dem Zelt, ob Jeskas Hilfe ausreichte. Aber die drei hatten sich bislang auch ohne mich von einem
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