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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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überleben.
    »Pi«, sagte Orion eindringlich, »ich werde es nicht zulassen. Du wirst Gabriel nicht begleiten.«
    »Das würdest du mir antun?« Auf einmal verwandelte er sich vom Freund zum Feind.
    »Im Gegenteil, ich werde dich daran hindern, dir etwas anzutun«, sagte er. »Bei Gott, hast du den Verstand verloren? Hast du vergessen, was Neustadt ist? Ein Gefängnis, und die Regs sind die Wärter oder die Henker, wie es ihnen gerade passt.«
    Er hatte noch nie »bei Gott« gesagt. Jedenfalls nicht in meiner Gegenwart.
    »Du bist einer von den Damhirschen, Orion«, stellte ich fest. Es machte mich unsagbar traurig. Und zugleich froh. Wenigstens einer von uns war angekommen. »Einer von Gabriels Leuten. Aber ich nicht. Ich kann so nicht leben.«
    »Ich auch nicht. Deshalb kämpfen wir. Deshalb werden wir den Jägern beweisen, dass wir mehr sind als jagbares Wild. Wir werden ihnen ein für alle Mal zeigen, dass man mit uns rechnen muss.«
    Auf einmal war das Lächeln wieder da. Es war ernst, ja sogar ein wenig bitter, aber es war ein richtiges Lächeln, und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern.
    Er war kein Soldat, und ich war nicht dazu fähig, einen Menschen zu töten. Und doch, während wir uns anlächelten, wurden wir alt, viel älter als die Anzahl unserer Jahre. Nun hieß es, von einer Jahreszeit zur nächsten. Ein Sommer, ein Herbst. Und jede Nacht konnte eine Ewigkeit bedeuten. Wir waren beide nicht mehr, was wir vor kurzem gewesen waren – weder von der tollpatschigen Pi noch von dem gefeierten Schulhelden war noch etwas übrig.
    »Du musst nicht fortgehen. Es wird heißen, ich sei es gewesen«, flüsterte er. »Wer würde auch etwas anderes glauben? Paulus kann dir nichts, wenn du unauffällig bist. Und Ricarda wird dich von nun an als ihre echte Tochter betrachten.«
    Wenn er die Schuld auf sich nahm – und wer würde ihm nicht glauben, dass er getötet hatte, um mich zu beschützen? –, würde Paulus ihn in die Wildnis schicken. Oder hatte er, so wie ich auch, gar nicht vor, ins nächste Lager zu gehen? Hatte er vor, hier im Wald zu bleiben, sein Leben im Kampf gegen die Jäger zu opfern, damit Gabriel den Hubschrauber stehlen konnte?
    Nein, wollte ich rufen, nicht du auch noch, doch da lag schon das vertraute Geräusch der Rotorblätter in der Luft. Der Wind wurde stärker und zupfte an den Baumwipfeln.
    »Jetzt. Sie gehen da hinten auf der Lichtung runter, genau wie geplant. Ruf deinen Vater an, es geht los.«
    Keine Zeit für Diskussionen oder Streit, keine Gelegenheit mehr für letzte Worte.
    Mit zitternden Fingern wählte ich die vertraute Nummer.
    Hörte das vertraute Dudeln des Glücksliedes.
    Und dann eine Stimme. Tief und warm und ein kleines bisschen unsicher, als hätte man ihn gerade ertappt.
    »Ja?«
    Ich brachte kein Wort heraus. Ein Kloß hinderte mich am Schlucken, die Fragen verknäulten sich auf meiner Zunge.
    »Ja?«, fragte mein Vater noch mal. »Wer ist denn da?«
    Das Display war auf »blind« gestellt, wir konnten einander also nicht sehen. Wo er wohl war? Im Institut, zu Hause?
    »Ich bin’s«, krächzte ich schließlich. »Bitte, sag kein Wort. Es geht mir gut. Wenn du willst, dass das so bleibt, musst du etwas für mich tun. Ein Freund von mir wird in Kürze auf dem Platz vor deiner Arbeitsstelle landen. Ungefähr in zwei Stunden.« Orion nickte mir zu. »Du musst dich dort mit ihm treffen und etwas mitbringen. – Papa, bist du noch da?«
    »Ich höre dich.«
    »Es ist wichtig. Dieser Freund möchte etwas … das, was Luther hatte.« Wie lange hatte ich darüber nachgegrübelt, wie ich die Forderung formulieren sollte, ohne »Morbus Fünf« auszusprechen. Ich war mir ziemlich sicher, dass das ein verbotener Begriff war, den man am Telefon lieber nicht erwähnen sollte.
    »Ich verstehe«, sagte er. Auch er sprach es nicht aus. Mein Vater war klug und besonnen. Ich hatte mir so viel Schreckliches ausgemalt, wie dieses Gespräch verlaufen könnte, wie er sich selbst in Gefahr brachte, aber die Stimme am anderen Ende blieb ruhig. Nur ein leises Zittern darin, eine ungewohnte Heiserkeit verriet mir, wie sehr er sich aufregte.
    »Wirst du da sein?«, fragte ich noch, doch da hatte Orion bereits den Daumen an die Taste gelegt und den Tom ausgeschaltet. Ich kämpfte mit den Tränen. »Das war mein Vater.«
    »Ich weiß«, sagte er leise. »Du warst sehr gut.«
    Mein Vater würde da sein. Und ich würde aus dem Hubschrauber springen, in seine Arme.
    Jetzt war der Zeitpunkt

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