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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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flüsterte sie schließlich, mit einer Stimme, die sich nicht wie eine Stimme anhörte.
    »Oh«, sagte ich, »Benni schläft da hinten unter dem Haselnussstrauch. Ich musste ihn mitnehmen, weil doch der Jäger unser Zelt gefunden hatte.«
    Ein Ruck ging durch Ricardas Körper. »Er lebt? Du hast ihn mitgenommen?«
    »Ich zeig dir, wo das ist!«, rief Jeska eifrig, nahm ihre Mutter bei der Hand und zog sie mit sich. »Komm, ich zeig’s dir.«
    Sie rannten an mir vorbei. Ich hörte, wie Ricarda aufschrie. »Benni! Benni!« Ihr Schluchzen und Heulen nahm eine Lautstärke an, die mich fast umwarf. Dann kamen sie zu dritt wieder, Ricarda trieb die beiden Kinder vor sich her, auf mich zu, und dann ließ sie Jeska und Benni los und umarmte mich. »Danke«, weinte sie. »Du hast auf ihn aufgepasst, Pia. Mein liebes Kind. Oh danke. Oh großer Gott, oh verflucht. Danke, danke. Komm her, Jeska. Komm, Benni.« Sie breitete die Arme aus und presste uns alle drei an ihre Brust, wobei sie wieder losheulte. Der Kleine machte sich steif und ließ alles wie immer über sich ergehen. Jeska lächelte unter Tränen. Ich nicht. Ich weigerte mich, zu weinen. Ich weigerte mich, zu denken. Über Ricardas Schulter hinweg sah ich den Steinhaufen und das Blut darauf, und unter einem länglichen Hügel, von einer Plane verdeckt, ragten Füße hervor. Vier Füße, zwei große und zwei kleinere.
    Meine Knie gaben unter mir nach. Ich konnte nicht fallen, dazu hielten mich Jeska und Ricarda zu fest. Ich konnte ihrer Umarmung nicht entkommen. Ich konnte dieser Nacht nicht entkommen, nichts von dem, was ich getan hatte. Auch meinen Gefühlen konnte ich nicht länger entfliehen. Die klaren Gedanken verflüchtigten sich, sie hatten ihre Schuldigkeit getan. Dann waren nur noch Gefühle da. Ich wollte ihnen keinen Namen geben. Es waren zu viele. Sie waren zu stark für mich. Eine Woge, die mich unter sich begrub. Ein Steinhaufen, der auf mich herabprasselte. Ein Feuer, in dem ich verglühte.
    Es war zu viel. Ich wollte das nicht. Ich wollte nichts mehr fühlen. Ich wollte nach Hause, zurück in meine Wolke, zurück zu meiner eigenen Mutter mit ihren Bildern, meinem Vater, der am Frühstückstisch in seinem Ersatzkaffee rührte. Zurück zu Moon, die mich einen Tollpatsch schalt, zu Lucky, in dessen Umarmung ich verschwinden wollte. Das war der einzige Ort, an den ich jetzt noch fliehen konnte. Vor mir. Vor dieser Nacht. Vor Ricardas Tränen und Jeskas Lachen und vor Benni, dessen mageren Körper ich immer noch in meinen Armen spürte. Vor diesen Bildern, die mich von heute an verfolgen würden. Vor vier Füßen unter einer Plane.

29.
    Bis auf einen Mann waren Gabriels Leute zurückgekommen. Vergebens versuchte ich, mich an das Gesicht zu erinnern, das fehlte, aber ich vermochte es nicht. Mein Gehirn weigerte sich, einen Namen auszuspucken.
    Dieser eine musste auch die Schwachstelle gewesen sein, durch die die Jäger bis zum Lager vorgedrungen waren. Zum Glück war es nicht Orion. Er war da, und diesmal lag in seinen Augen kein Strahlen, sondern kalte Wut. Die Abwesenheit seines Lächelns war wie eine Wunde in seinem Gesicht; es war, als wäre einer der Sterne in dem Sternbild, das seinen Namen trug, erloschen.
    Während das ganze Lager in Aufruhr war, blieb Gabriel ganz ruhig. Seine engsten Getreuen scharten sich um ihn und gaben ihm Rückendeckung, während er zur Eile mahnte.
    »Wer hat diese Jäger getötet?«, schrie eine Frau. »Nun werden die Regs uns alle umbringen!«
    »Sei still«, befahl Merton. »Vielleicht sind sie schon irgendwo in der Nähe.«
    Da wurde sie bleich und verstummte.
    »Unser einziges Heil liegt in der Flucht. Leise. Schnell. Zum Glück ist das meiste sowieso schon gepackt. Wir müssen nur noch die Zelte abbauen und die Netze abhängen. Und dann los. Ihr kennt den Treffpunkt.«
    »Das muss Konsequenzen haben«, sagte eine Frau, die ein kleines Mädchen auf dem Arm hielt. »Denkt ihr Idioten denn jemals an die Kinder? Es muss Konsequenzen haben, wenn ihr uns alle in Gefahr bringt!«
    »Erst die Flucht«, sagte Jakob. »Begreift ihr nicht? Eile ist das Einzige, was uns noch retten kann.«
    »Kommt.« Ricarda sprach mit Autorität zu den anderen Frauen. »Wir müssen aufbrechen, oder es war alles umsonst.«
    Wie festgewachsen blieb ich stehen und beobachtete, wie die Ersten loszogen und ihre Habseligkeiten auf den langen Stangen hinter sich herschleiften. Wie Orion sich über die Toten beugte, gemeinsam mit Alfred. Ich wollte

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