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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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meinem Kopf. Vor allem der Gedanke, der leise und drängend murmelte: Es wird schiefgehen, es wird schiefgehen …
    Ich hatte damit gerechnet, dass es so sein würde wie am Südtor: eine Halle, ein breiter Streifen Ödland, dahinter der Zaun mit den Wachtürmen. Doch wir gingen und gingen, und ich wartete vergebens auf den Augenblick, in dem die Häuser zurücktraten und den Blick auf das Grenzgebiet freigaben. Stattdessen standen wir plötzlich am Zaun, nur ein paar Meter von ihm entfernt. Dahinter war Dunkelheit. Ein Scheinwerfer malte einen goldenen Streifen über ein unebenes Gelände voller Vertiefungen und dunkler Schatten. Über uns ballte sich der Stacheldraht, und der Zaun gab ein unheilvolles Summen von sich.
    Instinktiv wichen wir zurück. Dieses Hindernis würde ich nicht überklettern wollen, und der Gedanke, ein Loch hineinzuschneiden, war ebenfalls absurd. Selbst hier waberte Elektrizität durch die Luft, mir standen die Haare zu Berge. Fluchtartig kehrten wir in die Straße zurück.
    »Lasst uns nach dem Tor suchen«, flüsterte Lucky.
    Die Straße führte uns wieder ein gutes Stück weg, zwischen Wohnhäusern und Bürogebäuden hindurch, bis wir auf eine breitere Straße trafen, die geradewegs nach Westen führte. Hier waren weniger Leute unterwegs, daher mussten wir vorsichtig sein, aber niemand schien auf uns zu achten. Die Einwohner von Neustadt waren glücklich, mit sich selbst beschäftigt, begeistert von ihrem Werk, dem neuen Menschen auf die Sprünge zu helfen. Warum sollte irgendjemand damit rechnen, dass ein paar Jugendliche so verrückt waren, sich nach der unberechenbaren Wildnis zu sehnen?
    Ich musste schlucken. Dort war das Tor. Es war nicht so breit und gewaltig wie das Südtor, sondern nahm höchstens vier, fünf Meter in Anspruch, nicht mehr als die Straße, die darauf zuführte und abrupt dort endete, wo der unebene Boden begann, über den der gleißende Lichtstrahl seine Wanderung fortsetzte. Die Wachtürme zu beiden Seiten standen etwas versetzt, und ich nahm auch eine Bewegung dort oben wahr. Natürlich, die Wächter waren unermüdlich im Einsatz, um uns vor den Gefahren aus der Wildnis zu beschützen. Wieder fragte ich mich, ob sie wohl mit Glückseligkeit abgefüllt waren wie alle anderen, oder ob sie dort oben standen, zornig und sehnsüchtig und verwirrt, so wie ich.
    In einer unauffälligen Ecke zwischen dem »Büro für pädagogische Angelegenheiten« und dem Pfeiler, der auf die dazugehörige Tiefgarage hinwies, fanden wir ein ungestörtes Eckchen.
    Orion erläuterte uns, worauf wir warteten. »Es wird ein Transporter sein, der direkt aus dem VDNM-Ministerium kommt. Wachen? Ja, natürlich. Aber die Straße endet am Tor. Sie werden auf dieser Seite halten müssen und die Verbrecher die letzten Meter laufen lassen. Das ist unsere einzige Gelegenheit. Wir müssen so schnell sein, dass wir in der Gruppe sind, bevor die Männer durchs Tor gehen.«
    Wieder hatte ich einen merkwürdigen Kloß im Hals. »Kannst du denn schnell laufen?«, frage ich. »Wie geht es deinem Bein?«
    »Fragst du das im Ernst?« Hier in der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, aber ich spürte die Entschlossenheit, die er ausstrahlte. Orion würde auch noch mit einem gebrochenen Bein übers Spielfeld rennen, wenn der Sieg davon abhing, und hier ging es um viel mehr.
    Moon legte einen Arm um Stars Schulter. »Und wie geht es dir?«, flüsterte sie mitfühlend.
    »Gut«, sagte Star, und es klang ehrlich, nicht gewollt tapfer. Ich bezweifelte, dass es einem Mädchen gutgehen konnte, das seinen toten Bruder im Arm gehalten und aus dem vierten Stock geworfen hatte, aber Lucky sagte: »Schön. Dann warten wir jetzt also?«
    »So ist es«, bestätigte Orion. »Etwas anderes können wir nicht mehr tun.«
    Wir schwiegen. Aber da waren sie: Gedanken. Klar wie Kristall. Sie bildeten Muster, wie Schneeflocken, symmetrisch und voller Schönheit.
    »Es geht nicht nur um uns«, flüsterte ich. »Stiller hat gesagt, es sei eine Art Staffellauf aller Schulen. Also gab es auch woanders Fehler bei der Glücksgabe. Gandhi hat darüber gesprochen, dass die anderen wieder eingegliedert worden wären. Es gab viel mehr Jugendliche, die aus dem Glücksstrom herausgefallen sind.« Ich versuchte dahinterzukommen, was das bedeutete. »Das System hat versagt. Jemand hat einen Teil der Glücksgaben falsch ausgeliefert. War es ein Versehen? Das dürfte doch gar nicht vorkommen. War es Absicht? Gibt es in Neustadt

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