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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Schließlich war er bestimmt doppelt so schwer wie ich, und ich hatte tatsächlich keinen Hunger und aß nur ein paar Krümel, um bei Kräften zu bleiben. Immer noch saß mir der Schreck im Nacken, und ich fragte mich, ob es jemals besser werden würde. Gab es überhaupt Glück in diesem neuen Leben, in dieser fremdartigen Welt?
    Die Landschaft veränderte sich, während wir gingen. Die Bäume wurden größer und zahlreicher, die Stämme waren hier nicht mehr schlank und weiß, sondern graubraun und rissig, sie breiteten ihre Zweige über uns aus wie ein gigantisches Dach. Wenn sich Lücken darin auftaten, führte Helm uns am Rand der Lichtungen entlang statt mitten hindurch, als befürchtete er, jemand könnte uns von oben sehen. Vögel vielleicht, auch wenn ich noch keinem gefährlichen Exemplar begegnet war. Jedenfalls waren sie überall. Zuerst hatte ich das Hintergrundrauschen gar nicht beachtet, bis Rightgood leise fragte: »Was sind das für Tiere in den Bäumen?«
    Helm drehte sich um und warf ihm einen unbeschreiblichen Blick zu, jenseits von Verachtung sogar.
    »Meinst du die Vögel, oder waren da Eichhörnchen?«
    »Neustädter«, knurrte Jakob, der auch heute wieder das Schlusslicht bildete. »Oh großer Gott.«
    »He«, protestierte Helm, »du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen.«
    »Du kannst mich mal«, sagte Jakob.
    Danach wagte keiner von uns, Fragen zu stellen. Es war sowieso sinnvoll, sich den Atem zu sparen. Schweigend trotteten wir hinter Helm her.
    Ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt hatte. Mein ganzes Leben lang hatte ich nur Neustadt gekannt, und im Fernsehen gab es höchstens Bilder unserer Nachbarstaaten. Die Wildnis kam bloß am Rande vor, ein geheimnisvolles Gebiet voller Krankheit, ein Land, in dem es vor Raubtieren wimmelte, wo Parasiten jeden befielen, der auch nur einen Fuß hineinsetzte, wo irre Mörder die verfaulenden Kranken abschlachteten. Ein Lager … war das vielleicht eine Art Stadt mitten in der Wildnis? Unwillkürlich musste ich an die Lagerhalle denken, an Waggons, Lastwagen, Schienen, Wächter. Geschäftigkeit, Scheinwerfer, viele Menschen. Doch als Helm knapp verkündete: »Wir sind da« – war da gar nichts. Wir standen nach wie vor im Wald. Von anderen Menschen oder gar Häusern keine Spur.
    Hatten wir uns so beeilt, nur um erneut in eine Plane gewickelt auf der Erde zu schlafen?
    »Wie viele hast du mitgebracht?« Ein Mann trat zwischen den Bäumen hervor. Auch er trug Kleidung, die ihn mit dem Wald verschmelzen ließ. »So viele waren tauglich?« Prüfend ließ er den Blick über uns wandern. »Kinder? Auch das noch.«
    Der Kerl war groß und schlank und wirkte trotz seines gestutzten Bartes sehr gepflegt, ganz anders als der zottige Helm. Sein dunkles, an den Schläfen angegrautes Haar verlieh ihm eine gewisse Würde. In Neustadt wäre er kaum aufgefallen, nur durch den Bart und die komische Haarfarbe. Graue Haare hatte bei uns eigentlich niemand. Trotzdem missfiel mir, wie er uns musterte, und dass er uns Kinder nannte, machte ihn mir nicht sympathischer. Schweigend stand Jakob hinter uns, doch ich spürte, wie die Atmosphäre sich veränderte. Ein unausgesprochener Vorwurf lag in der Luft.
    »Der Junge braucht einen Arzt«, sagte Helm, als hätte er nichts davon bemerkt. »Alles andere muss warten.«
    Er packte Orion am Arm und führte ihn zwischen die Bäume, auf ein dichtes Gestrüpp zu. Erst im letzten Moment stellte ich fest, dass es sich um ein großes Zelt handelte, nahezu unsichtbar unter Zweigen und Netzen verborgen. Helm klopfte an die Stoffwand, woraufhin sich eine behelfsmäßige Tür öffnete und ein Mann den Kopf herausstreckte, ein kleiner, hagerer Kerl mit erschreckend wenig Haar.
    »Ein Patient, Doc«, erklärte Helm.
    Bei Orions Anblick weiteten sich die Augen des Arztes vor Überraschung. »Ein Soldat, sieh an. – Und du bist auch krank?«, fragte er mich.
    Der Gedanke, man könnte mich von Orion trennen, erschreckte mich bis ins Mark. Er war der Einzige hier, denn ich kannte, und mich mit irgendwelchen Wilden auseinanderzusetzen, ganz allein, überstieg meine Kräfte.
    »Sie bleibt bei mir«, sagte Orion sofort.
    »Na schön. Es ist nur ein wenig eng.«
    Helm zögerte, ich merkte ihm an, dass er auch mit hineinwollte, doch der Arzt schenkte ihm ein mildes Lächeln. »Das geht schon. Es reicht, wenn du am Eingang wartest. Er ist nicht mein erster Soldat.«
    In dem geräumigen Zelt sah es zu meiner Überraschung fast so aus wie in

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