Wild und frei
Niemand würde daran denken, nach ihm zu sehen. Wenn er sich aus dem Bett befreien und einen Weg nach draußen finden könnte …
Fiebernd vor Aufregung begann er, seine Schultern kräftig gegen die Fesseln zu pressen. Zunächst gaben sie nur wenig nach, aber allmählich fing der gewebte Stoff an, sich zu dehnen. Black Otter ließ seine Muskeln spielen, sie spannten sich, und die Stoffbänder schnitten in seine Haut, aber jedes Mal wurden sie noch eine Fingerbreite schlaffer. Er streckte und wand sich nach oben, wie eine Schlange, die sich häutet. Plötzlich war sein Oberkörper frei. Er riss die Umhüllung ab. Endlich konnte er wieder aufrecht sitzen und die Blutsauger an seinem Bein zu fassen bekommen.
Es waren fünf von den abscheulichen Tieren, schwarz und prall von seinem Blut. Er löste sie mit äußerster Vorsicht, denn er dachte an seine Erfahrungen mit kleineren Blutegeln und daran, wie leicht ihre Köpfe in der Wunde stecken blieben und sie zum Eitern brachten. Nachdem er den ersten abgelöst hatte, warf er ihn schaudernd vor Abscheu quer durch den Raum. Nachdem auch die restlichen vier entfernt waren, atmete er heftig, und seine Haut stank nach Schweiß. Indem er gegen die Übelkeit ankämpfte, zog er die letzten Leinenstreifen von seinen Beinen. Mit Erleichterung stellte er fest, dass die Haut an seinen Handgelenken und Fußknöcheln anfing zu heilen. Vielleicht wäre er jetzt, zum ersten Mal während der letzten drei Monde, in der Lage zu gehen.
Bei den ersten Schritten konnten seine wackeligen Beine sein Gewicht kaum tragen, aber als Black Otter sich zwang, im Zimmer herumzugehen, kehrten allmählich seine Kraft und sein Gleichgewichtsgefühl zurück. Der Drang zur Flucht erwachte wieder. Er wühlte ihn auf und wurde stärker, bis er ihn an den Rand der Verzweiflung trieb.
Als der Freiheitsdrang in ihm die Oberhand gewann, sprang er hoch an das Fenster. Er hielt sich an den Gitterstäben fest, während er hin und her schwang und sie zu lockern versuchte. Aber die Stäbe waren fest in den Stein eingelassen und die Zwischenräume viel zu eng, um sich hindurchzuzwängen. Draußen sah er den Himmel, wo Seevögel kreisten. Ihre Schreie drangen an sein Ohr und erfüllten sein Herz mit einer solchen Sehnsucht, dass er sich am liebsten durch die schmale Öffnung gepresst und in die Freiheit gestürzt hätte.
Zutiefst enttäuscht, ließ er sich fallen und richtete seine Wut auf die Tür. Sie war aus massivem Hartholz gezimmert, die Bretter so stark wie seine Handgelenke und mit eisernen Riegeln versehen. Ein ausgewachsener Bär hätte sie nicht durchbrechen können, geschweige denn ein Mann. Was das Schloss anbelangte – ja, er erinnerte sich an das Geräusch des Schlüssels, als Rowena die Tür zuschloss. Selbst als ihr Vater am Boden lag, hatte sie das nicht vergessen.
Er griff nach dem Riegel und zog daran. Das leise Klicken, das er hörte, genügte, um für einen Augenblick seinen Herzschlag aussetzen zu lassen.
Er wagte kaum zu atmen, als er den Riegel noch einmal bewegte. Diesmal spürte er, wie er nachgab, und er lauschte den kaum wahrnehmbaren Geräuschen der Metallteile im Innern des Schlosses. Black Otter war verwundert. Er hatte die Bewegung des Schlüssels im Schloss gehört und wusste, was das bedeutete, aber jetzt schien die Tür unverschlossen zu sein. Hatte Rowena in der Eile den Schlüssel nicht weit genug herumgedreht? Oder konnte es sein, dass die Vorrichtung zu alt und abgenutzt war? Ganz gleich. Eine solche Gelegenheit würde sich nicht noch einmal bieten.
Er war wie betäubt und konnte sein Glück kaum fassen, als er wieder nach dem Riegel griff und spürte, wie er unter dem Druck seiner Hand nachgab. Die Tür klemmte etwas im Rahmen. Black Otters Nerven waren aufs Äußerste gespannt, als er sie einen winzigen Spalt aufstieß.
Durch die schmale Öffnung erspähte er einen düsteren Gang, den massive Holztüren säumten. Es war niemand zu sehen, aber er hörte deutlich das Gemurmel von Stimmen in einem Raum am anderen Ende. Er lauschte angestrengt und konnte Rowenas heisere Stimme heraushören ebenso wie die barschen Antworten des stämmigen Mannes, der Wache gehalten hatte. Der rundliche, einfältige Mann mit dem flachsfarbenen Haar – derjenige, den Black Otter in dem dunklen Verlies als Geisel genommen hatte – war ebenfalls da. Die arme, verängstigte Kreatur schien zu weinen.
Es waren auch noch andere Stimmen aus dem Raum zu hören, Stimmen, die Black Otter nicht kannte.
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