Wild und frei
Eingang zu der kleinen Kammer gleichzeitig. Auf der anderen Seite der verschlossenen Tür herrschte unheilvolle Stille.
“Was ist geschehen?” Rowena griff nach seinem Arm. “Wisst Ihr etwas, Vater?”
Sir Christopher schüttelte den Kopf, er sah bleich und verwirrt aus. “Ich habe ihn nur für einen Augenblick allein gelassen, um in mein Zimmer zu gehen. Er schlief, das nahm ich zumindest an …”
“Hier …” Sie schob die Hand in seine Tasche, um sich den Schlüssel zu nehmen, und wünschte im Stillen, er hätte seinen Plan ausgeführt und Thomas Öffnungen in die Tür sägen lassen. “Ist der Wilde noch ans Bett gefesselt?”
“Ja, das ist er – oder war es jedenfalls. Was tust du da, Mädchen? Du kannst nicht einfach die Tür öffnen und blindlings in dein Unglück rennen. Lauf, und hol erst Thomas!”
Rowena hatte jedoch den Schlüssel bereits ins Schloss gesteckt. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie es nicht mit einem wütenden indianischen Krieger aufnehmen könnte und es besser wäre, auf ihren Vater zu hören. Dennoch hallte der herzzerreißende Schrei in ihrem Innern wider, und sie wusste, ganz gleich, was in dieser kleinen Kammer vor sich ging, sie konnte sich nicht davon abwenden.
Das Schloss sprang auf, und Rowena warf sich gegen die Tür. Falls der Wilde sich befreit hatte und darauf wartete, anzugreifen oder zu fliehen, würde ihr plötzliches Eintreten ihn wohl zumindest überraschen.
Die verzogene Tür klemmte noch einen Augenblick, öffnete sich dann jedoch so unvermittelt, dass Rowena ins Stolpern geriet. Aber es wartete kein Ungeheuer darauf, sie mit seinen bronzefarbenen Armen zu packen. Der Wilde lag sicher festgebunden auf dem Bett. Sein Körper war wie versteinert, sein Blick starr auf die Deckenbalken gerichtet. Feine Schweißperlen glänzten auf seiner aschgrauen Haut.
Hatte er wirklich aufgeschrien? Mit klopfendem Herzen wagte sich Rowena näher heran. Er gab keinen Laut von sich, als sie sich über ihn beugte, aber in seinen Augen standen die panische Angst und die hilflose Wut einer gequälten Kreatur.
Das Musselintuch, das seinen hochgewachsenen Körper bedeckte, war zur Seite gerutscht und gab den Blick auf seine bloßen Beine frei. Rowena wollte ihn wieder zudecken, musste aber nach Luft schnappen, als sie die an seinem Fleisch festgesogenen Blutegel sah.
“Ist das Euer Werk?” wandte sie sich aufgebracht zu ihrem Vater um, der mit bleichem Gesicht an der Tür stand. “Blutegel, Vater? Diese blutsaugenden kleinen Scheusale?”
“Ich habe getan, was ich für richtig hielt.” Sir Christophers Stimme hatte einen eigenartig röchelnden Klang. “Ich weiß, du hältst nicht viel vom Aderlassen, aber wie du siehst, ist der Wilde bei Bewusstsein, und das Fieber scheint gesunken zu sein.”
“Das wäre es wahrscheinlich sowieso. Seht ihn Euch doch an! Er versteht nichts von Euren kostbaren Blutegeln! Kein Wunder, dass er geschrien hat. Wer würde das nicht tun?” Sie warf einen Blick auf den Wilden, sah dann wieder ihren Vater an. “Würdet Ihr jetzt Eure blutdürstigen Lieblinge entfernen, oder muss ich es selbst tun?”
Sir Christopher ließ sich durch ihre Unverschämtheit nicht aus der Ruhe bringen. “Die Blutegel saugen das vergiftete Blut auf. Ich werde sie entfernen, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig sind. Bis dahin wäre ich dankbar, wenn du dich nicht einmischen würdest!”
“Wie soll ich das ertragen und mich nicht einmischen?” schleuderte Rowena ihrem Vater entgegen. “Ich habe mein Möglichstes getan, Vater, um Eure Wünsche zu respektieren, aber obwohl Ihr die besten Absichten haben mögt, ist es klar, dass Ihr den Mann foltert!”
“Genug!” Der Blick des alten Mannes verhärtete sich hinter den dicken Brillengläsern. “Alles, was ich hier getan habe, ist zu deinem Besten! Warum weigerst du dich, das einzusehen?”
Rowena suchte nach einer Erwiderung, aber es war der Wilde, der das kurze Schweigen unterbrach. Er redete nicht in seinem ungehobelten Englisch, sondern in einer seltsamen Sprache, die sie nie zuvor gehört hatte. Die fließenden Silben stieß er zwar ärgerlich, leidenschaftlich und fordernd hervor, und doch waren sie von eigenartiger Schönheit.
Er vertrat seine Sache mit einer Beredsamkeit, welche die Sprachgrenzen überwand, und das Auf und Ab seiner kraftvollen Stimme war rhythmisch wie Musik.
Sir Christophers Augen sahen glasig aus.
“Da hörst du es”, murmelte er mit belegter Stimme, “nichts als blödsinniges
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