Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wild und frei

Wild und frei

Titel: Wild und frei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Lane
Vom Netzwerk:
Gestammel!”
    “Genauso wenig blödsinniges Gestammel wie Französisch oder Spanisch!” Rowena fuhr herum, um ihrem Vater in die Augen zu sehen, und wappnete sich schon innerlich für ein hitziges Wortgefecht. Aber ihr Ärger verrauchte in dem Moment, da sie ihn sah. Sir Christopher klammerte sich an den Türrahmen. Sein Gesicht war aschfahl, sein Mund war seltsam verzogen, und ein dünner schimmernder Speichelfaden hing von seinem Kinn herab.
    “Vater!” Mit einem Aufschrei war sie bei ihm, aber noch bevor sie ihn stützen konnte, sackte er zusammen. Seine gichtkranken Beine gaben nach, er stöhnte auf und glitt zu Boden.
    Rowena warf sich neben ihm auf die Knie. Da lag er nun, so klein und zerbrechlich, dass sein Körper unter ihrem weiten Gewand fast verschwunden war. Verzweifelt tastete sie über sein Kinn und tiefer, um seinen Puls an der Halsschlagader zu fühlen. Ja, dem Himmel sei Dank, er lebte – aber in welchem Zustand befand er sich? Seine Augen waren geschlossen, die allgegenwärtige Brille war zerdrückt und unter seinem Gewicht verbogen. Seine Haut war feucht und kalt. Hatte er einen Schlaganfall erlitten? Sie wusste es nicht. Ihr war nur klar, dass sie ihn in sein Bett bringen musste. Aber sie konnte ihn nicht allein tragen.
    Als sie aufsah, bemerkte sie, dass die scharf blickenden dunklen Augen des Wilden sie genau beobachteten. Konnte sie ihm vertrauen und ihn um Hilfe bitten? Nein, sie verwarf den Gedanken so schnell, wie er ihr gekommen war. Der Wilde war eine Gefahr für alle, die ihm nahe kamen – selbst für sie.
    Sie wandte sich von ihm ab und schleppte den leblosen Körper ihres Vaters auf den Flur, schlug die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Dann eilte sie zur Treppe und rief um Hilfe.
    Black Otter lag bewegungslos auf dem Feldbett und hörte den Tumult von Stimmen und eiligen Schritten außerhalb der Tür zu dem kleinen Raum. Er hatte gesehen, wie der alte Häuptling stürzte, und er hatte auch die Angst der Tochter wahrgenommen. Der alte Mann war dem Tod nahe, das verursachte diesen Aufruhr in dem großen Wigwam. Bei seinem eigenen Volk wäre das anders gewesen. Dort verstand man den Wechsel der Generationen und nahm ihn hin. Dies wäre der Zeitpunkt gewesen, an dem ein neuer Häuptling, den man vorher ausgewählt hatte, hervorgetreten wäre, damit das Leben der Menschen in gewohnten Bahnen weitergehen konnte. Wo war hier der neue Häuptling? Hier schien – außer der Frau – niemand verantwortlich zu sein.
    Rowena.
    Er konzentrierte seine Gedanken nun auf sie, um sich von den Blutegeln abzulenken, die an seinem Fleisch hingen und ihm den Lebenssaft aussaugten. Er hätte nicht schreien sollen, es war ein Ausbruch von aufgestauter Wut, Kummer und Furcht gewesen, eines erfahrenen Kriegers unwürdig. Aber jetzt hatte er sich wieder in der Gewalt und war abgehärtet gegen den Schmerz. Er konnte ihn ertragen, er
würde
ihn ertragen, bis zur Rückkehr nach Lenapehoken, wenn er seine Kinder im Arm halten – oder an ihren Gräbern trauern würde.
    Aber seine Kinder waren weit entfernt. Nur der Gedanke an
sie
, Rowena, ließ ihn zur Ruhe kommen. Er erinnerte sich daran, wie sie ausgesehen hatte, als sie sich über ihn beugte, das kastanienfarbene Haar vom Meereswind zerzaust, das schmale Gesicht leicht gerötet. Seine ausgehungerten Sinne sogen die Düfte auf, die sie von draußen mit hereinbrachte – den erdigen Duft des Grases und der wilden Frühlingsblumen, den salzigen Geruch des Meeres.
    Er sah das Entsetzen wieder vor sich, das in ihren Augen aufblitzte, als sie die Blutegel entdeckte. Da hatte sie sich ärgerlich an ihren Vater gewandt und vorwurfsvoll mit dem Finger auf ihn gezeigt. War es möglich, dass sie mit dem Plan, ihn zu foltern, nichts zu tun hatte? Hatte sie versucht, ihn vor den Männern ihres Stammes zu schützen?
    Konnte es sein, dass sie seine Verbündete war, die einzige Verbündete, die er an diesem Ort hatte?
    Ungeduldig wegen all seiner Fragen, zerrte Black Otter an seinen Fesseln – und spürte zum ersten Mal, dass sie etwas nachgaben, eine kaum wahrnehmbare Dehnung des Stoffstreifens, mit dem seine Schulter am Bettrahmen angebunden war. Vorsichtig bewegte er seine Schultern und versuchte erneut, den Stoff zu dehnen. Er gab nach – vielleicht noch eine Fingerbreite …
    Sein Puls raste, als er zu der verschlossenen Tür schaute. Nachdem der alte Häuptling so plötzlich erkrankt war, befand sich der große Wigwam in Aufruhr.

Weitere Kostenlose Bücher