Wild und frei
das würde er nehmen. Als Waffe ließ es wegen seiner geringen Größe viel zu wünschen übrig, aber auf kurze Entfernung könnte es recht nützlich sein.
Black Otter hielt das Messer fest in der Hand, drehte sich um und ging zu der geschlossenen Tür. Gerade wollte er sie öffnen, als er hörte, wie jemand schnellen und leichten Schrittes den Flur entlangkam. Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, dass die Person vorüberging – und war bestürzt, als sie ihre Schritte plötzlich verlangsamte und unmittelbar vor der Tür innehielt.
Black Otter verschwand im Schatten hinter einem großen Schrank und verharrte mit gezücktem Messer, als der Riegel zurückgeschoben wurde. Das Böse in diesem Raum wurde immer beklemmender und drohte ihn zu ersticken – da öffnete sich die Tür.
Er war bereit zum Angriff.
6. KAPITEL
Rowena stand vor der Tür zum Laboratorium. Die Hand auf dem Türgriff, zögerte sie, denn sie versuchte, damit fertig zu werden, dass seit diesem Morgen ihr Leben in Trümmern lag.
Ihr Vater ruhte im Bett, er lebte, war aber auf einer Körperseite vollständig gelähmt. Er war bei klarem Bewusstsein, erkannte sie und konnte zusammenhängend sprechen, aber die linke Seite seines Gesichtes war starr wie eine Maske aus Wachs. Gott allein wusste, wie lange er in diesem Zustand überleben würde, und Rowena machte sich schon auf das Schlimmste gefasst.
Sie hatte einen Stallburschen zum nächsten Doktor gesandt, aber außer in Falmouth gab es keinen. Wie sollte sie es nur aushalten, hilflos zu warten, unfähig, das Leiden ihres Vaters zu lindern? Soweit sie wusste, konnte der Anfall sehr wohl von ihr verschuldet sein. Wenn sie ihn nicht so heftig attackiert hätte wegen seiner Behandlung des Wilden …
Aber Jammern war nutzlos. Jetzt zählten nur Taten und die Hoffnung, dass sie es schaffte, alles Menschenmögliche für ihn zu tun. Im Laboratorium war ein Schrank, in dem sie ihre Kräuter und Arzneien zur Behandlung der Tiere aufbewahrte. Zumindest konnte sie etwas gegen die Schmerzen zubereiten, einen Tee vielleicht, der ihrem Vater helfen würde, die Zeit besser zu überstehen, bis der Doktor eintraf. Thomas und Dickon waren beide in Sir Christophers Zimmer. Sie konnten auf ihn achtgeben, während sie diese einfache Aufgabe erledigte, und würden sie sofort holen, sollte es ihm schlechter gehen.
Sie überwand sich, die Tür zu öffnen und den sonnendurchfluteten Raum zu betreten. Das grelle Licht blendete sie, und der Tisch und die ihn umgebenden Schränke verschwammen vor ihren Augen. Sie konnte kaum etwas erkennen – aber das machte nichts, sie kannte diesen Raum von Kindheit an, das Durcheinander von Büchern, Gefäßen und fremdartigen Sammlungsstücken. Hier hätte sie sich auch mit verbundenen Augen zurechtgefunden.
Der Schrank, der ihre Kräuter enthielt, stand am anderen Ende des Raumes. Sie ging darauf zu, noch immer ganz benommen angesichts der Ungeheuerlichkeit, die geschehen war. Selbst wenn Sir Christopher überlebte, konnte er nicht mehr arbeiten. Nie wieder würde sie in das Laboratorium kommen und ihn über eine seiner Raritäten gebeugt vorfinden, vor sich hin murmelnd, während er emsig seine Aufzeichnungen machte. Nie wieder würde sie seine Aufregung bei einer neuen Entdeckung teilen oder stundenlang beim Abendessen mit ihm über anatomische oder philosophische Fragen sprechen, bis die Kerzen erloschen und sie im Dunkeln saßen.
Rowena standen die Tränen in den Augen. Der Kummer legte sich bleiern auf ihr Gemüt und drohte sie zu erdrücken. Ich muss mich zusammennehmen, rief sie sich zur Ordnung. Außer ihr war niemand da, um sich um alles zu kümmern, während ihr Vater krank war. Das Laboratorium, die Abrechnungen, das Haus, die Dienstboten, die Pferde und das Vieh, für alles war nun sie verantwortlich.
Auch für den Wilden.
Ihr sank der Mut, als sie sich daran erinnerte, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte – an den Bettrahmen gefesselt, während die Blutegel an seinem Bein klebten. Gütiger Himmel, wie lange war das her? Der arme Kerl war sicher außer sich vor Angst!
Sie drehte sich hastig um – und prallte auf eine kräftige Gestalt, die drohend vor ihr aufgetaucht war. Blind vor Tränen, konnte Rowena nur die Silhouette erkennen, aber die Arme, die sie grob packten, kannte sie ebenso wie die starke Hand, die ihren Schrei erstickte. Sie hätte wissen müssen, dass
er
sich nicht durch Leinenbänder und Schloss und Riegel aufhalten ließ. Sie hätte sich denken
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