Wild und frei
durch die Tür, immer noch das Messer an ihrer Kehle. Rowena stolperte über die Schwelle hinaus in die strahlende Nachmittagssonne. Hinter sich spürte sie, wie er zögerte. Einen Atemzug lang blieb er ruhig stehen und ließ den Blick über das weite Moorland schweifen. Überall blühte der Ginster, ein goldener Teppich, hier und dort gesprenkelt mit Büscheln von Grasnelken und blauen Wiesenglockenblumen. Dann sah er nach oben zu dem kobaltblauen Himmel hinauf, wo Dreizehenmöwen über den Klippen ihre Kreise zogen. Nochmals atmete er tief durch und füllte seine Lungen mit der Luft der Freiheit …
Einer Freiheit, die es für ihn nie geben würde.
Während seiner qualvollen Fahrt auf dem Karren vom Meer hierher hatte Black Otter dieses Land flüchtig gesehen. Aber erst jetzt begriff er, wie riesig es war, das weite Hügelland, das wogende Meer von Gras und Wildblumen. Seine Leute waren Waldbewohner, gewöhnt an das schützende Dach der Kronen von Erlen und Hickorybäumen. Es erfüllte ihn mit Entsetzen, als ihm plötzlich seine Verwundbarkeit klar wurde. Nach den langen Monden der Todesangst und des Eingesperrtseins zitterte er wie ein Tier des Waldes, das plötzlich seines Schutzes beraubt ist.
Sein Gefühl, geschärft durch die Erfahrung eines ganzen Lebens, drängte ihn loszulaufen. Hier waren keine Eisenstangen oder verschlossenen Türen, keine schweren Ketten, die ihn niederdrückten. Es gab nichts, was ihn zurückhielt.
Nichts außer Rowenas zarter Hand, die seinen Arm umfasst hatte.
Erst da merkte Black Otter, dass er sie nicht länger festhielt. Er hatte die Hand mit dem Messer sinken lassen und die bedrohliche Umklammerung ihrer Taille gelockert. Jetzt war
sie
es, die ihn festhielt, ihre Hand warm und drängend auf seinem nackten Arm, als ob sie fürchtete, dass er ihr entfliehen würde wie einer der weißen Vögel, die sich über den Klippen sammelten. Und sie sprach zu ihm mit ihrer sanften Stimme in ihrer ihm fremden Sprache. Black Otter konnte nur wenig von dem verstehen, was sie sagte – nur ein Wort ab und zu. Aber ihr eindringlicher Ton und der Druck ihrer Finger sagten ihm, was er wissen musste. Sie war entschlossen, ihn mit allen Mitteln am Fortgehen zu hindern.
Wie weit würde sie gehen? Würde sie um Hilfe schreien? Ihn bei der erstbesten Gelegenheit verraten? Er betastete das Messer in seiner Hand, prüfte die scharfe Klinge. Sicher wäre er gut beraten, sie jetzt zu töten, ihren zarten weißen Hals aufzuschlitzen, ehe sie Gelegenheit bekam, aufzuschreien.
Bei diesem Gedanken umschloss er das Messer fester – aber nein, ermahnte er sich augenblicklich. Die Lenape führten keinen Krieg gegen hilflose Frauen. Außerdem wäre Rowena als Geisel nützlich, oder sogar als Führerin. Er würde sie mitnehmen. Doch ihr musste klar sein, dass er kein Gefangener mehr war und es nie wieder sein würde. Jetzt war sie seine Gefangene.
Black Otter blickte über das weite Moor, wohl wissend, dass seine Flucht nur gelingen würde, wenn er so bald wie möglich ein Versteck fand. Er wählte den erfolgversprechendsten Weg, packte Rowena am Arm und stürmte, so schnell er konnte, den weiten Abhang zum Meer hinunter.
Rowena schrie auf, als der Wilde sie fest am Handgelenk packte und grob hinter sich her zerrte. Er schleifte sie mit einer solchen Geschwindigkeit über das Moor, dass sie manchmal hinter ihm herzufliegen schien. Dornengestrüpp verhakte sich in ihren Röcken und riss den Saum in Fetzen. Wurzeln und Steine zerschrammten ihre Füße in den leichten Hausschuhen.
“Halt – im Namen der Barmherzigkeit …” Sie stolperte über einen Dachsbau, fiel in ein Brombeerdickicht und riss sich den Ärmel ihres Gewandes von der Schulter bis zum Handgelenk auf. Die dunklen Augen des Wilden funkelten sie an, als er gerade so lange wartete, bis sie sich wieder hochgerappelt hatte. Jetzt wusste sie, wohin er wollte. Eine Achtelmeile vom Haus entfernt, wo das Gelände nach Osten abfiel, lag ein bewaldetes Tal, durchflossen von einem Bach, der über die Klippen ins Meer stürzte, glitzernd wie ein Diamantregen. Sobald der Wilde dort in Deckung ginge, wäre er spurlos verschwunden, genau wie die wilden Kreaturen, zu denen er gehörte. Er würde frei sein. Frei, zu verhungern, zu töten und zu sterben.
“Ich flehe dich an …”, keuchte sie und glaubte, die Lungen müssten ihr platzen. “Wir müssen zurück! Bitte – mein Vater – er braucht mich …”
Ihre Worte ließen den Wilden völlig
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