Wild und frei
er sich nicht oder sprach sie an? Er musste sie doch inzwischen erkannt haben.
Sie erreichte den Boden der Treppe, und ohne auf den Schmutz und die Unordnung zu achten, stürmte sie vorwärts und warf sich beinahe gegen die Gitterstäbe. Jetzt sah sie seine ganze Gestalt – die verwundete Schulter, die immer noch verschorft und entzündet war, das reglose Gesicht, die Rattenbisse, mit denen sein nackter Oberkörper und die Arme übersät waren. Bosleys Schläger hatten ihm keine weiteren Verletzungen zugefügt, aber das war auch nicht nötig gewesen. Der Wilde hatte fast vierzehn Tage in dieser höllischen Finsternis zugebracht, frierend, einsam und ohne Hoffnung. Er machte den Eindruck eines gefangenen Tieres, das auf sein Ende wartete.
Todunglücklich stand sie außen vor dem Gitter und wollte ihn durch ihre Willenskraft dazu bringen, dass er sie ansah. Sie war mit guten Nachrichten gekommen, aber vielleicht war es schon zu spät.
Black Otter starrte ausdruckslos durch das Gitter, seine Gefühle lagen im Widerstreit – einerseits Angst, Wut und Verzweiflung, andererseits Hoffnung, Liebe und Vertrauen. Es gab eine Zeit, da hatte er sich dem Willen dieser Frau untergeordnet. Er hatte die Sprache und das Verhalten der Weißen erlernt, ihre Kleidung getragen, ihre Speisen gegessen – all dies genauso um ihretwillen wie um seiner selbst willen. Jetzt kam es ihm so vor, als ob ein Abgrund zwischen ihnen läge.
Nicht dass er Rowena dafür verantwortlich machte. Sie trug keine Schuld an seinem Unglück. Aber die Zeit in diesem rattenverseuchten Loch hatte ihn wieder zu seinem wahren Selbst finden lassen. Er war ein Lenape-Krieger. Er gehörte an einen anderen Ort, und er konnte nicht, wollte nicht weiter in ihrer Welt leben.
Sie presste sich gegen das Gitter, selbst ihr Schweigen ein einziges Flehen. Ein Teil von ihm sehnte sich danach, sie in seine Arme zu schließen, sie eng an sich geschmiegt zu halten, sie durch die Gitterstäbe hindurch zu küssen, bis das Begehren zur köstlichsten Folter aufflammte. Er wollte sich in ihr verlieren, sie lieben, bis die Glut der Leidenschaft allen Schmerz und alle Trauer verzehrt hatte.
Aber dennoch lag diese weite und schreckliche Kluft zwischen ihnen, und er wusste, sie spürte es genauso.
“Warum hast du mich gerettet?” Seine Stimme kam wie aus einer anderen Welt, war voller Stolz und Schmerz, als ob er sie angriffe.
“Wie hätte ich denn anders handeln können?”, entgegnete sie. “Es war mein Vater, der dich nach England verschleppen ließ. Da war es doch meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass du in Sicherheit bist, wenn er es nicht mehr konnte.”
“Und so, wie du mich jetzt siehst, bin ich da in … Sicherheit?” Die eisige Schärfe in seiner Stimme war so beißend, dass sie zusammenzuckte. “Geh wieder hinauf, Rowena, und bring dich selbst in Sicherheit. Dein Freund Bosley wird mich auf keinen Fall am Leben lassen. Nur eine Bitte habe ich – bring mir ein Messer. Wenn sie kommen, um mich zu töten, will ich im Kampfe sterben.”
Einen Augenblick lang sah sie ihn verwirrt an. Dann gewann ihr Zorn die Oberhand, und sie sprach so heftig, dass die Kerzenflamme unter ihrem heftigen Atem anfing zu tanzen. “So, du hast also aufgegeben? Ohne dir überhaupt anzuhören, was ich dir zu sagen habe. Du stolzer, eingebildeter Dummkopf!”
Verblüfft hörte er ihr zu, während sie ihn in ihren fantastischen Plan einweihte. Ihr Einfallsreichtum berührte und erstaunte ihn. Aber als schon wieder Hoffnung in ihm aufkeimen wollte, wurde sie gedämpft durch die warnende Stimme von Angst und Misstrauen.
“Ich soll mit diesen Menschen verkehren? Mit ihnen reden?”
“Ja, einen Nachmittag lang.” Die Begeisterung für ihren Plan hatte sie ergriffen. Rowena strahlte voller Schönheit, und ihre Augen glänzten im goldbraunen Licht. “Du hast nichts zu befürchten. Sie werden neugierig sein, aber niemand wird dir Übles wollen. Mit Bosley und den Männern auf dem Schiff hast du den Abschaum der Engländer kennengelernt, aber dies sind gute Menschen. Wenn du es gestattest, werden einige von ihnen vielleicht sogar deine Freunde, deine Beschützer …”
“Und dann?”, fragte er, ihre Absicht erahnend. “Was wird sein, wenn sie gegangen sind? Werde ich dann wieder angekettet wie ein Hund, den man nur hervorholt, wenn Besuch kommt?”
“Nein!” Sie drängte sich dichter an das Gitter heran, ihr Gesicht so eifrig und so schön im Kerzenlicht, dass die Traurigkeit ihm
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