Wild und frei
hättet Ihr gewiss die Rechnung von dem Kapitän des Schiffes gefunden, mit dem er nach Falmouth gekommen ist. Jetzt könnt Ihr ihn nicht mehr bedrohen. Alle maßgeblichen Leute in der gesamten Grafschaft wissen, dass der Wilde hier ist, und werden ihn sehen wollen.”
In der Großen Halle war es totenstill geworden. Dann fing Sibyl an zu lachen.
“Ich fürchte, Ihr habt Eure kleine Braut unterschätzt, Edward! Sie hat Euch ganz schön hereingelegt. Wenn Ihr John Savage nicht vorzeigen könnt, und zwar gesund und unversehrt, werden die vornehmsten Familien in Cornwall Euren Kopf verlangen! Und sobald sich herumspricht, wen wir hier beherbergen, werden wir uns vor Besucherscharen, einschließlich der Königin, nicht mehr retten können!” Sie brach in schallendes Gelächter aus. “Rowena, meine Liebe, ich verneige mich vor Euch! Selbst ich hätte mir keinen raffinierteren Plan ausdenken können!”
“Verräterin!” Bosley drehte sich zu ihr um, sein Gesicht entsetzlich aschfahl. “Das macht alles zunichte! Was sollen wir denn nun nur tun?”
Sibyl zog eine ihrer schön geschwungenen Augenbrauen hoch. “Ich weiß nicht, was Ihr tun werdet, Edward, ich jedenfalls werde eines der aufregendsten gesellschaftlichen Ereignisse genießen, das ich seit Jahren erlebt habe!”
Rowenas Sieg war jedoch alles andere als vollständig. Bosley beherrschte nach wie vor mithilfe seiner drei Schläger das Gut, und er weigerte sich strikt, den Wilden bis zum Tage des Bankettes aus dem Kerker zu lassen. Aber zumindest hing das Damoklesschwert schwerer körperlicher Misshandlung fürs Erste nicht mehr über ihm, wodurch Bosleys Macht über Rowena sich entsprechend verringerte. Von Heirat war jedenfalls bis auf Weiteres nicht mehr die Rede.
Rowena konnte endlich Atem schöpfen, wie ein vom Ertrinken Bedrohter, aber es gab noch viel zu tun, bevor sie beruhigt sein konnte, dass ihr Wilder in Sicherheit war.
Am allerwichtigsten war es jetzt, mit John Savage zu sprechen, und ihn auf das vorzubereiten, was auf ihn zukäme. Dies in die Wege zu leiten würde jetzt einfacher sein, da sie nicht mehr mit den schrecklichsten Folgen rechnen musste. Der gesamte Haushalt befand sich in Aufruhr wegen Sibyls Vorbereitungen für das Bankett. Bei so viel Betriebsamkeit – so vielen Menschen, die gereizt und abgelenkt waren – war es für Rowena ein Leichtes, eine Schüssel mit Pudding aus der Vorratskammer zu holen, ein Heilkraut, das sie im Laboratorium fein zerstoßen hatte, darunter zu mischen und der kleinen Küchenmagd aufzutragen, es der Nachtwache zu bringen. Das Kraut war harmlos, aber in der richtigen Menge würde es den stämmigen Bauernlümmel selig einschlummern lassen.
Mit Spannung wartete sie auf den Einbruch der Dämmerung und dann darauf, dass Bosley und Sibyl ihr endloses Whistspiel beendeten und sich für die Nacht zurückzögen. Erst als sie sicher war, dass alles schlief, wagte sie es, eine einzige Kerze anzuzünden, aus ihrem Zimmer zu schlüpfen und wie ein Schatten die Treppe hinunterzuhuschen.
Ganz wie sie gehofft hatte, lag der Kellerwächter im tiefsten Schlafe, hingelümmelt wie ein müdes Kind in der Ecke zwischen Wand und Tür, die leere Schüssel neben seinen ausgestreckten Beinen. Rowena ging vorsichtig um ihn herum und hielt den Atem an, als sie die Tür aufschloss.
Das Quietschen der Scharniere beim Öffnen war für ihre angespannten Nerven fast unerträglich. Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete sie, das Geräusch würde den schlafenden Wächter aufwecken, aber er schlummerte weiter. Mit noch größerer Vorsicht schloss sie die Tür hinter sich, hielt eine Hand schützend vor die flackernde Kerzenflamme und machte sich daran, langsam die Treppe in das pechschwarze Kellerloch hinabzusteigen.
Ihr kam in den Sinn, wie sie schon einmal in ihrem Nachthemd diese Stufen hinabgeschlichen war und sich – Quilt und Brotlaib unter den Arm geklemmt – dem im Dunkeln lauernden Wilden genähert hatte. Wie ängstlich und unsicher sie damals gewesen war, ganz im Gegensatz zu heute. Denn nun handelte sie voller Entschlossenheit, und ihr Herz pochte wild aus Vorfreude, ihn zu sehen, zu berühren und ihm Hoffnung zu bringen.
Das Kerzenlicht flackerte über das Durcheinander aus Kisten, Kästen und Fässern und brachte die kalten Eisenstäbe des Kerkers zum Glitzern. Jetzt konnte sie auch undeutlich die Umrisse von Kopf und Schultern des Wilden vor dem Hintergrund der bleichen Steinmauer erkennen. Warum rührte
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