Wild und frei
sie schrie, so laut sie konnte, würde er sie bei diesem Sturm und dem Getöse des Meeres niemals hören können.
Und wenn er nun nicht da war? Was dann?
Rowena wollte nicht daran denken, versteckte ihr Bündel hinter einem schützenden Felsen, hatte damit beide Hände frei und machte sich an den Abstieg. Die Klippe war feucht von der Gischt, bei jeder Bewegung lauerten unbekannte Gefahren. Tief unten hörte sie die Wellen zischen und krachen, wie sie ihre Klauen in den Felsen schlugen und nur darauf zu warten schienen, dass sie abstürzte.
Zoll für Zoll bewegte sie sich abwärts über den Felsvorsprung, während der Sturm an ihren Röcken zerrte. Als Kind war ihr der Weg so mühelos vorgekommen. Heute Nacht machte die Kletterei sie fast wahnsinnig vor Angst. Mit ihrem nassen Schuh suchte sie nach der letzten Trittstelle, ehe der Pfad zum Höhleneingang abfiel. Wo war nur die kleine Nische? Sie konnte nicht …
Unwillkürlich schrie sie auf, als sie den Halt verlor und nach unten stürzte. Ihr war, als reckte die See sich empor, um sie zu verschlingen, da packten sie im allerletzten Augenblick kräftige Hände und zogen sie nach oben in die Sicherheit der Höhle.
“Oh …” Sie keuchte, als der Wilde sie mit seinen Armen umfangen hielt. Unfähig, etwas zu sagen, klammerte sie sich an ihn, verlor sich in der wärmenden Kraft seines Körpers, dem gleichmäßigen Geräusch seines Atems und dem Klopfen seines Herzens an ihrem Ohr. “Dem Himmel sei Dank, du bist in Sicherheit!”, flüsterte sie, als sie endlich wieder sprechen konnte. “Ich hatte solche Angst, dass ich dich in diesem Leben nicht wiedersehen würde!”
In der Dunkelheit berührte er ihr Kinn, fuhr dann mit einer Fingerspitze die Linien ihres Gesichts nach. Sie griff nach seiner Hand, drehte sie zu sich und presste die Lippen in die Höhlung seiner Handfläche.
“Sie waren alle unterwegs und haben nach dir gesucht”, sagte sie, immer noch außer Atem. “Die Männer mit ihren Pferden und Hunden. Ich habe mir schon gedacht, dass du hier sein musst. Sonst hätten sie dich gefunden.”
“Ich habe sie gehört. Sie kamen oben an der Klippe vorbei, bis meine falsche Fährte die Hunde abgelenkt hat.”
Rowena nickte, den Kopf gegen seine Schulter gelehnt. Einmal, im Moor, hatte er ihr gezeigt, wie man Verfolger abschütteln konnte, indem man in seinen eigenen Fußspuren rückwärts ging. Diese List hatte ihm heute gute Dienste geleistet.
“Sie hätten dich auf der Stelle gehängt, wenn du ihnen in die Hände gefallen wärst”, sagte sie. “Man hat deinen Bogen und die Pfeile im Stall gefunden. Alle glauben, du hättest sie getötet.”
“Sie getötet?” Er war erstarrt.
“Jawohl, Sibyl getötet.” Sie erzählte ihm, was geschehen war. Er lauschte aufmerksam, als sie beschrieb, wie es im Stall ausgesehen hatte. Sein ehrliches Erstaunen und Entsetzen bestärkten sie in ihrem Glauben, dass er mit dem Mord nichts zu tun hatte.
“Und du, Rowena?”, fragte er, als sie geendet hatte. “Glaubst du, dass ich das getan habe?”
“Nein.” Sie schüttelte heftig den Kopf. “Es war Bosley. Er muss es gewesen sein.”
“Er war da, draußen vor der Tür.” Der Wilde berichtete ihr, wie er nach dem Messer gesucht hatte, von Sibyl und der Peitsche. Rowena hörte voller Entsetzen zu und musste wieder an den Striemen auf Bosleys Wange denken.
“Ich hörte ihn und lief los”, sagte der Wilde. “Pfeile und Bogen musste ich zurücklassen. Aber das Messer – mir blieb nicht genug Zeit, um es zu finden.”
“Das Messer war nicht mehr da”, sagte Rowena traurig. “Nachdem Bosleys Männer dich an jenem Tag überwältigt hatten, fand ich es und brachte es zurück ins Laboratorium meines Vaters. Wenn ich es dir doch nur anvertraut hätte, dann hättest du nicht in den Stall gehen und danach suchen müssen.” Sie sah zu ihm auf. “Da liegt meine Schuld. Kannst du mir jemals vergeben?”
“Dir vergeben?” Sie spürte die Anspannung in seinem Körper und machte sich auf einen Wutausbruch gefasst. “Dir vergeben?” Seine Stimme war rau. Er packte Rowena bei den Schultern, sein Blick schien in der Dunkelheit zu lodern. Draußen zerteilten Blitze den Himmel. Wild krachte die See gegen die Felsen, weiße Gischt spritzte hoch an den Klippen empor. Aber hier, in der Höhle, war es so still, dass Rowena das heftige Klopfen ihres Herzens hören konnte.
“John, bitte”, flüsterte sie.
“Nicht John Savage – niemals wieder. Ich heiße Black
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