Wild wie das Meer (German Edition)
könnte man Freundschaften schließen. Tatsächlich weiß ich aber sehr wenig von ihm – nicht mehr als der Rest der Welt. Wir alle wissen von seinen Großtaten, kennen seinen Ruf. Ich würde mich als sein Freund bezeichnen – er rettete mir das Leben in Cadiz –, aber zugegeben, wenn wir Freunde sein sollten, so habe ich eine solche Freundschaft noch nicht erlebt.“
Die Worte klangen ein wenig wehmütig, aber Virginia war nicht bereit, Mitgefühl zu verspüren. Vielmehr regte sich Neugierde in ihr. „Was für Großtaten? Was für einen Ruf hat Captain O’Neill?“
„Man nennt ihn den ,Freibeuter Seiner Majestät’, Miss Hughes“, sagte Mr. Harvey und lächelte nun, als behage ihm der Themenwechsel. „Ihm geht es immer zuallererst um die Prisen, und ich vermute, er ist inzwischen ein sehr vermögender Mann. Seine Vorgehensweise im Kampf ist höchst unkonventionell, genau wie seine Strategien – und seine politischen Ansichten. Die meisten Leute in der Admiralität verachten ihn, denn er hält sich selten an seine Befehle und tritt den alten Herren in den blauen Uniformen mit Geringschätzung gegenüber. Es kümmert ihn nicht einmal, wenn sie seine Abneigung spüren. Die Zeitungen und Gazetten drucken seitenlange Berichte seiner Taten auf See. Die Leute erfahren auch von seinen Taten an Land. Die Blätter der feinen Gesellschaft erwähnen ihn stets, wenn er daheim ist und mal diese Soiree, mal jenen Club besucht. Mit gerade mal achtzehn Jahren kämpfte er bei Trafalgar. Er übernahm das Kommando des Kanonenboots, auf dem er diente, und zerstörte zwei weitaus größere Schiffe. Unverzüglich ernannte man ihn zum Kommandanten eines eigenen Schiffes, und das war erst der Anfang.“ Endlich fand Mr. Harvey in seiner eifrigen Erzählweise Zeit, Luft zu holen.
Virginia warf erneut einen Blick auf den Mann, der sie gefangen hielt. Das Sonnenlicht verfing sich in seinem blonden Haar. Dieser Mann besuchte Soireen und Clubs? Sie konnte sich das kaum vorstellen.
„Devlin ist zurzeit der größte Captain auf hoher See, lassen Sie sich das gesagt sein.“ Mr. Harvey lächelte. „Und mit dieser Ansicht stehe ich nicht allein da.“
„Sie mögen ihn!“, sagte Virginia vorwurfsvoll und erstaunt zugleich. Doch trotz der Feindseligkeit, die sie nicht aufzugeben bereit war, war sie auch beeindruckt – von den Taten, nicht von dem Mann selbst.
Mr. Harvey hob die Brauen. „Ich bewundere ihn, sehr sogar. Es ist unmöglich, nicht von ihm beeindruckt zu sein, nicht, wenn man unter seinem Befehl steht.“
„Er hat letzte Nacht das Schiff gerettet“, merkte sie an. „Warum hat er keinen der Matrosen in den Mast geschickt?“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Weil er wusste, dass er es schaffen würde. Das ist der Grund, warum wir ihn bewundern, Miss Hughes. Da er uns führt, er leitet uns alle, und wie können wir ihm da die Gefolgschaft verweigern?“
Sie zögerte, und ihr Herz raste. „Ist er ... verheiratet?“
Mr. Harvey war überrascht und lachte schließlich. „Nein! Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch, er mag Frauen, und es gibt viele Damen in London, die ihn liebend gerne vor den Altar locken würden – er wurde unlängst zum Ritter geschlagen, müssen Sie wissen –, aber ich kann mir Devlin beim besten Willen nicht mit einer Gemahlin vorstellen. Sie müsste eine sehr starke Persönlichkeit sein, um mit einem solchen Mann zurechtzukommen.“ Der Arzt wurde nachdenklich. „Ich glaube nicht, dass Devlin überhaupt je ans Heiraten gedacht hat. Aber er ist ja noch jung, gerade mal vierundzwanzig. Sein Leben ist die See, denke ich. Ich nehme an, das könnte sich indes eines Tages ändern.“ Doch seine letzten Worte klangen nicht überzeugend.
O’Neill wirkte so schroff und hart, wie er heldenhaft gewesen war – und er schien sehr allein zu sein. Virginia ertappte sich dabei, den Blick abermals auf den großen Kommandanten geheftet zu haben. Während sie die imposante, Ehrfurcht gebietende Erscheinung beobachtete, deren machtvolle Aura förmlich mit Händen zu greifen war, berichtigte sie ihre Einschätzung sogleich. Nichts an diesem Mann ließ darauf schließen, dass er an Einsamkeit litt. Er schien vielmehr in sich selbst zu ruhen, und nur eine sehr törichte Frau würde auf den Gedanken verfallen, ihn aus seinem Alleinsein zu erlösen.
„Er ist kein schlechter Mensch“, sagte der Arzt leise. „Und genau deshalb verstehe ich nicht, was er getan hat und was er vorhat. Er braucht ganz gewiss
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