Wild wie das Meer (German Edition)
weit sind wir vom Kurs abgekommen?“, fragte sie, und es klang mehr nach einem Befehl als nach einer Frage.
„Ungefähr einhundertundfünfzig Meilen“, sagte er und sah, dass sie erbleichte. „Beunruhigt Sie das?“
Sie starrte ihn an und nickte schließlich. „Wohin segeln wir jetzt?“, fragte sie grimmig.
Sie war sehr klug. Er bewunderte ihren wachen Geist und beschloss, sie nie wieder zu unterschätzen. „Es nützt nichts, südwärts durch den Wind nach Portsmouth zu wenden. Zudem ...“ – er spürte einen Stich im Herzen, ein Beweis, dass er doch zu Gefühlen fähig war –, „habe ich große Zweifel, dass die ,Americana’ dort angekommen ist.“
„Sie glauben ...?“ In ihrem Schreck verstummte sie.
„Ich bezweifle, dass sie den Sturm überlebt hat. Wir sind gerade noch einmal davongekommen. Mac ist ein trefflicher Seemann, aber er segelte mit einer Rumpfmannschaft.“ Ein Gefühl der Trauer überkam ihn, und er versuchte nicht, dagegen anzugehen. Das war der Lauf der Dinge auf See, und den kannte er sehr genau; die See verschlang mehr Leben, als sie wieder freigab. In den zurückliegenden Jahren hatte er gelernt, den Verlust seiner Leute zu beklagen und dann zu vergessen. Es war bei Weitem leichter, mit dem Tod umzugehen, wenn man die Unausweichlichkeit des Todes akzeptierte.
„Es berührt Sie nicht“, keuchte sie. „Sie haben wahrlich ein Herz aus Stein – wenn Sie überhaupt eines haben“, warf sie ihm vor. „Diese Männer, dieses Schiff, sie alle liegen auf dem Meeresgrund wegen Ihnen!“
Jetzt flammte sein Zorn auf. Er packte so rasch ihr Handgelenk, dass sie aufschrie, doch er gab sie nicht frei. „Sie liegen allesamt in einem Seegrab wegen des Sturms, Miss Hughes, und da ich nicht der Meeresgott bin, hatte ich wenig Einfluss auf das Unwetter letzte Nacht!“
Sie wagte sogar noch, trotzig den Kopf zu schütteln. „Nein! Hätten Sie nicht das Schiff überfallen und schwer beschädigt, nur um mich zu entführen, würden sie alle noch leben!“
Wie niemand anders schien diese Frau die Fähigkeit zu besitzen, seinen Zorn zu entfachen. Wütend stieß er ihre Hand fort und sah mit Bestürzung, dass ihre Handgelenke rote Striemen hatten. „Hätte ich dieses Schiff nicht angegriffen, lägen Sie jetzt mit allen anderen auf dem Meeresgrund.“ Er war im Begriff, sich von ihr abzuwenden. Dieser Frau mangelte es wahrlich an Respekt.
Doch da fiel ihm wieder ein, was ihn zuvor beschäftigt hatte, und daher fuhr er herum und wandte sich ihr zu. „Ich rate Ihnen, sich nicht mit Harvey gegen mich zu verschwören“, warnte er sie.
Sie schien eingeschüchtert. „Das ... das tue ich doch gar nicht!“, wehrte sie ab.
„Sie lügen“, zischte er und beugte sich so weit zu ihr hinab, dass ihre Gesichter sich beinahe berührten. „Ich spüre eine Verschwörung, wenn sie sich vor meiner Nase zusammenbraut. Wissen Sie, welches Schicksal einem Meuterer blüht, Miss Hughes?“
„Es gibt keine Meuterei“, warf sie ein.
Er bedachte sie mit einem kalten Lächeln. „Sollten Sie versuchen, Harvey für Ihre Machenschaften zu gewinnen, so machen Sie sich der Meuterei schuldig, meine Liebe. Meuterer werden gehängt“, fügte er genüsslich hinzu, und das war nicht ganz gelogen. Er würde Harvey zwar nicht hängen lassen, aber er würde einen verdammt guten Schiffsarzt verlieren.
Sie wich vor ihm zurück und stieß gegen die Bordwand. „Ich muss Ihnen etwas sagen“, rief sie energisch.
Er war im Begriff zu gehen. Ihr Tonfall gefiel ihm nicht, und daher drehte er sich zu ihr um und erwartete Gehässigkeiten.
„Ich verachte Sie“, brachte sie mit belegter Stimme hervor.
Merkwürdigerweise zuckte er zusammen. Nicht äußerlich, doch irgendwo tief in seinem Innern. Er spürte, wie seine Lippen sich zu einem freudlosen Lächeln verzogen. „Zu mehr können Sie sich nicht durchringen?“, spottete er.
Sie sah so aus, als wollte sie zu einem Schlag ausholen.
„Tun Sie das nicht“, warnte er sie leise.
Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Ich bedaure, dass ich Sie verfehlt habe“, zischte sie unvermutet. „Ich bin ein guter Schütze, und wenn ich nur ein wenig länger gewartet hätte, wären Sie jetzt ein toter Mann.“
„Aber zum Glück lebe ich noch“, höhnte er. Ihre Worte besaßen eine Schärfe, die er nicht wahrnehmen wollte, doch sie bohrten sich tief in ihn. „Geduld, Miss Hughes, ist eine Tugend. Und Sie, mein Drache, haben wahrlich keine.“ Mit diesen Worten schritt er
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