Wild wie das Meer (German Edition)
stehen, und einer nahm noch einen kräftigen Schluck aus einem Krug. Der Stämmigere der beiden antwortete: „Die ,Mystere’ legt im Morgengrauen ab, Junge. Hab gehört, dass der Capt’n zu wenig Leute hat. Nimmt jeden, der zwei Beine hat.“
Virginia konnte ihr Glück kaum fassen. Sie strahlte über das ganze Gesicht. „Dank euch, Männer.“
Plötzlich trat der Mann näher und musterte sie mit glasigem Blick. „Hey, kenn ich dich nicht, Junge? Bist du nicht mit uns auf der ,Defiance’ gesegelt?“
Virginia machte auf dem Absatz kehrt und rannte fort, ohne auf die Frage einzugehen, denn sie wusste, dass die beiden Betrunkenen ihr nicht hinterherlaufen würden. Die „Mystere“ war eine Schaluppe, nur etwa halb so groß wie die „Defiance“, die ganz in der Nähe vertäut war. Atemlos lief Virginia über die Landungsplanke. Im selben Moment wurde sie von dem wachhabenden Matrosen angerufen.
„Ich heiße Robbie“, antwortete sie mit tieferer Stimme. „Möchte morgen früh die Segel mit euch setzen, Jungs, wenn’s der Capt’n erlaubt.“
Der schlaksige Matrose kam auf sie zu und hielt seine Fackel höher. „Der Capt’n isst gerade“, sprach er. „Aber uns fehlen Männer. Komm, Rob. Bin mir sicher, dass er dich sprechen will.“
Mit pochendem Herzen folgte Virginia dem jungen Matrosen und war erleichtert, dass er mit der Fackel vorausging.
„Wie alt bist du?“, fragte der Bursche.
Sie zögerte. „Fünfzehn.“
„Siehst aus wie zwölf“, sagte er lachend. „Keine Sorge, Captain Rodrigo würd’s auch nichts ausmachen, wenn du acht wärst. Haben einige Jungs an Bord, die gerade erst aus den Windeln raus sind.“
Virginia erwiderte nichts und folgte dem Matrosen zu einer Kajütentür unterhalb des Quarterdecks. Der Wachmann klopfte, und sie wurden hereingebeten.
„Hab hier einen Jungen, Capt’n, der mit uns segeln möchte.“
Ein korpulenter Mann mit einem grauen Bart und dunklen, durchdringenden Augen saß an einem kleinen Tisch und beendete offenbar sein Abendessen, das aus Brot, Käse, Hammelfleisch und Ale bestand. Argwöhnisch musterte er Virginia, die sich so dicht wie möglich an der Tür aufhielt. „Tritt vor, Junge“, sagte er schroff. „Schon mal auf einem Schiff gesegelt?“
Zögerlich trat Virginia vor, schaute dem Kapitän jedoch nicht in die Augen. Sie musste unter allen Umständen nach London, und daher setzte sie alles auf eine Karte und legte sich eine Lüge zurecht. „Aye, Sir. Bin schon mit acht zur See gefahren.“
„Wirklich?“ Der Kapitän wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab und rülpste ungeniert. „Auf was für Schiffen?“
Virginia erbleichte. Doch da kam ihr eine brillante Idee, und sie sagte: „Auf der ,Americana’, Capt’n.“
„Nie gehört.“
„Wir wurden von der ,Defiance’ aufgebracht, Sir. Vor wenigen Tagen. Die ,Americana’ liegt jetzt vermutlich auf dem Meeresgrund – hatte einfach nicht die Segel, um dem Unwetter zu entkommen, das über uns hereinbrach. Ich hatte Glück, an Bord der ,Defiance’ geholt zu werden“, sagte sie und lächelte den beleibten Mann an.
„Und warum willst du das Schiff wechseln?“ Rodrigo maß sie viel zu genau mit seinen wachen Augen. „Die meisten meiner Leute würden gerne unter O’Neill segeln.“
Virginia zögerte. „Aber ich nicht, Sir. Er hat eine Vorliebe ... für Jungen, wenn Sie verstehen, was ich meine, Capt’n.“
Das breite Gesicht des Kapitäns blieb ausdruckslos. „O’Neill ist bekannt dafür, die schönsten Frauen um sich zu scharen. Pack sie dir, Carlos.“
Virginia wirbelte herum, als der hoch aufgeschossene Bursche namens Carlos die Hand nach ihr ausstreckte. Geschickt duckte sie sich und stürmte an ihm vorbei aus der Kajüte.
„Ergreift die Frau!“, rief Rodrigo. „Sie ist O’Neills Verlobte, verflucht, und uns winkt eine hübsche Belohnung, wenn wir sie ihm zurückbringen!“
Virginia begriff sofort, was hier gespielt wurde, während sie über das Deck rannte. O’Neill hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, nach ihr zu suchen, denn er ahnte, dass sie versuchen würde, ein Schiff nach London zu finden. Wie sie ihn jetzt hasste, als sie der Landungsplanke zustrebte!
Vom Dock aus betraten gerade einige Matrosen die Planke. Virginia hörte Carlos rufen: „Packt euch die Frau! Das ist kein Junge, sondern eine Frau! O’Neills Frau!“
Keuchend blieb Virginia stehen, als die Männer zauderten, doch dann rannten alle vier über die Planke auf sie
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