Wilde Chrysantheme
keinerlei Spur von Kälte.
»Juliana«, drängte er und wies auf seinen Besucher, als sie noch immer keine Anstalten machte, den Gast zu begrüßen.
»Verzeihen Sie mir, Sir! Im Moment hatte ich Sie nicht bemerkt.« Juliana riß sich zusammen und knickste vor dem großgewachsenen, schlanken Gentleman in einem auffallenden rosenfarbenen Seidenanzug.
»Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Ma'am.« Der Gentleman verbeugte sich. »Seine Gnaden hat mir bereits alles über Ihr Mißgeschick und seine Ursachen erzählt.«
Juliana blickte fragend auf Tarquin, unsicher, wie sie diese Äußerung auffassen sollte. Er reichte ihr eine Flugschrift. »Lies das hier, da erfährst du nämlich, daß du nicht die einzige Verfechterin der Sache bist, Juliana.«
Bisher war sie noch nie auf das
Drury Lane Journal
gestoßen. Der Untertitel
Angeprangert
wurde klar, sobald sie zu lesen begann. Es war ein unflätiges, klatschhaftes Blatt, voller versteckter Andeutungen und angeblich wahrheitsgetreuer Berichte über skandalöse Abenteuer unter den Angehörigen der mondänen und politischen Kreise Londons. Allerdings las es sich auch frech und amüsant. Aber Juliana verstand noch immer nicht so recht, was Tarquin gemeint hatte. Verwirrt überflog sie die Veranstaltungshinweise und Kritiken von Theaterstücken beziehungsweise Opern und blickte dann auf. »Das ist ja alles sehr witzig, Sir, aber ich verstehe nicht…«
»In der Mitte finden Sie einen Artikel von einer gewissen – Roxanna Termagant«, warf Mr. Thornton hilfreich ein.
Juliana blätterte zurück und fand die Kolumne. Ihre Lippen öffneten sich zu einem lautlosen »Oh«. Miss Termagant lieferte eine präzise Schilderung des sogenannten Aufruhrs in Cocksedges Schokoladenstube; sie nahm kein Blatt vor den Mund, als sie sowohl Mitchell als auch Cocksedge offen beschuldigte, die Gewalttätigkeiten und die darauffolgende Razzia inszeniert zu haben, um die Verhaftung von vier Frauen zu erreichen – eine davon die Ehefrau eines Viscounts. Auf den Bericht folgte eine leidenschaftliche Geißelung der Behörden, die sich dazu hergegeben hatten, den fragwürdigen Zwecken der Bordellwirtinnen zu dienen, und in diesem Zusammenhang unschuldige Mädchen festgenommen hatten: handelte es sich doch lediglich um eine friedliche Diskussion darüber, wie sich ihre Lebensund Arbeitsbedingungen verbessern ließen.
»Wer ist diese Dame?« wollte Juliana wissen.
Mr. Thornton verbeugte sich schwungvoll. »Sie steht vor Ihnen, Ma'am.« Er grinste schalkhaft.
Vielleicht erklärte das die etwas feminine Seide. Trotzdem begriff sie das Ganze keineswegs. »Seine Gnaden hat Ihnen von den Vorfällen erzählt?«
»Es ist keine ungewöhnliche Geschichte, Mylady. Jeder Versuch der Frauen, bestimmte Grundrechte von ihren sogenannten Brotgebern zu fordern, wird vereitelt. Aber« – er nahm ihr die Zeitung ab und klopfte sich damit in die Handfläche – »wir können den Bordellwirtinnen und Zuhältern das Leben ungemütlich machen, indem wir sie dem Spott und der Empörung der Öffentlichkeit aussetzen. Leider ist es schwierig für mich, alles über die Greuel herauszufinden, die dort vorgehen. Ich wußte zum Beispiel nichts von dem Fall Miss Lucy Tibbets. Deshalb möchte ich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten, Lady Edgecombe.«
Juliana hockte sich auf die Armlehne des Sofas. Sie blickte zu Tarquin hinüber, der in seinem Sessel zurückgelehnt saß, seine verschränkten Finger unterm Kinn, während sein Blick auf ihrem Gesicht ruhte. »Nicht alle Mitglieder unserer Gesellschaft verschließen die Augen vor Ungerechtigkeit,
Mignonne.
Mr. Thornton hat großen Einfluß in Covent Garden. Ich glaube, seine Methoden sind effektiver, als Huren zur Rebellion anzustiften und nichts weiter damit zu erreichen als einen Gefängnisaufenthalt.«
»Dann… dann wollen Sie also auch mitmachen?« fragte sie mit einem skeptischen Stirnrunzeln. Es schien ziemlich unglaubhaft, aber was könnte er sonst meinen?
»Sagen wir einfach, du hast mir die Augen geöffnet«, erklärte Tarquin trocken.
Juliana war so verdutzt, daß sie einen Moment lang Mr. Thorntons erneute Darlegungen gar nicht mitbekam. Er hüstelte höflich, um ihre Aufmerksamkeit zurückzuholen, und fuhr fort: »Wie ich schon sagte, Lady Edgecombe… ich habe gehört, daß Sie Freundinnen in Covent Garden haben. Frauen, die in der Lage sind zu erfahren, was vorgeht. Wenn Sie sie ermutigen, sich Ihnen anzuvertrauen, dann werde ich das Material
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