Wilde Chrysantheme
Schicksal, die sie tapfer unter Kontrolle zu halten versuchte, machte Juliana die Langeweile am meisten zu schaffen. Sie war an ein aktives Leben gewöhnt, und gegen Ende des dritten Tages konnte sie das Eingesperrtsein in der kleinen Schlafkammer kaum noch ertragen. Trotz ihrer Verzweiflung hatte sie keine Fragen gestellt, hatte nicht auf ihrer Freiheit bestanden; denn ihr störrischer Stolz verbot es ihr, sich ihre Bestürzung vor ihren Peinigern anmerken zu lassen. Sie würde ihnen schon zeigen, daß sie die längere Ausdauer besaß, und wenn sie begriffen, daß sie unnachgiebig in ihrer Weigerung blieb, würde ihnen nichts anderes übrigbleiben, als sie freizulassen.
Aber am frühen Nachmittag des vierten Tages änderten sich die Dinge. Das kleine Dienstmädchen erschien in Julianas Schlafkammer, die Arme mit Seide und Spitzen und feiner Wäsche beladen.
»Sie sollen heute unten zu Abend speisen, Miss«, sagte sie und strahlte Juliana über den duftigen, farbenprächtigen Armvoll Kleidungsstücke hinweg an. »Und anschließend im Salon präsentiert werden.« Sie öffnete die Arme, um ihre Last aufs Bett fallen zu lassen. »Sehen Sie nur, was für ein wundervolles Kleid Mistress Dennison für Sie hat anfertigen lassen.« Sie schüttelte die Falten jadegrüner Seide aus und hielt das Abendkleid hoch, damit Juliana es genauer betrachten konnte.
»Nehmen Sie es wieder mit, Bella«, wies Juliana sie an. Ihr Herz hämmerte zwar in ihrer Brust, doch sie bildete sich ein, daß ihre Stimme ausreichend energisch klang.
»Ah, Miss, das kann ich nicht.« Bella hörte auf, das prachtvolle Kleid in ihren Händen zu bewundern, und starrte Juliana an. »Mistress Dennison hat es speziell für Sie in Auftrag gegeben. Es war bis heute morgen noch nicht fertig, deshalb mussten Sie hier oben in Ihrer Kammer bleiben. Aber jetzt ist alles bereit.« Sie wandte sich begeistert dem Wäschestapel auf dem Bett zu. »Schauen Sie… nagelneue Batistunterwäsche, zwei Unterröcke, seidene Strümpfe… und hier, sehen Sie sich nur diese hübschen Schuhe an! Die Schnallen sind bestimmt aus echtem Silber, darauf würde ich jede Wette eingehen, Miss! Mistress Dennison stattet ihre Mädchen nur mit dem Besten aus.« Sie reichte Juliana ein Paar zierlicher, apfelgrüner Seidenpumps mit hohen Absätzen.
Unwillkürlich griff Juliana nach den Schuhen und maß den Absatz mit dem Finger. Ihre Füße waren schon ungebärdig genug, wenn sie flach auf dem Boden standen; was sie in diesen hochhackigen Pumps hier anrichten würde, daran wagte sie gar nicht zu denken.
Sie ließ sie zu Boden fallen. »Richten Sie Mistress Dennison von mir aus, daß ich nicht die Absicht habe, diese Kleider zu tragen oder von ihr präsentiert zu werden… oder zu sonst irgend etwas bereit bin.«
Bella sah sie entgeistert an. »Aber Miss…«
»Nichts aber«, unterbrach Juliana sie barsch. »Jetzt gehen Sie schon und bestellen Sie, was ich gesagt habe… und nehmen Sie, um Gottes willen, diese Hurenkleider wieder mit.« Sie wies mit einer verächtlichen Geste auf das Bett.
»O nein, Miss, das werde ich nicht tun.« Bella knickste hastig und huschte aus dem Raum.
Juliana setzte sich auf den Fenstersitz, ignorierte ihr aufgeregt klopfendes Herz, faltete ihre Hände im Schoß und harrte der Entwicklung der Dinge.
Lange brauchte sie nicht zu warten. Knapp zehn Minuten später öffnete sich die Tür, und beide Dennisons standen auf der Schwelle. Elizabeth, ein prachtvoller Anblick in einem Kleid aus leuchtend orangefarbener Seide über einem himmelblauen Unterrock, segelte herein, gefolgt von einem großen Gentleman in einem enganliegenden Anzug aus kanariengelbem Taft und mit gepudertem und gelocktem Haar.
Juliana, die sich vernünftigerweise sagte, daß sie sich nichts vergab, wenn sie Höflichkeit walten ließ, erhob sich von ihrem Platz und knickste; doch ihre Augen hatten einen scharf abschätzenden Ausdruck, als sie auf ihren Besuchern ruhten. Sie war Richard Dennison bisher noch nicht begegnet, erriet seine Identität jedoch aufgrund von Bellas Beschreibung.
»Also, was ist das für ein Unsinn, den ich da höre, Kind?« Elizabeth klang verärgert.
»Das gleiche könnte ich Sie fragen, Madam«, erwiderte Juliana ruhig. Ihre Gedanken überschlugen sich. Konnten sie sie zur Prostitution zwingen? Konnten sie sie vergewaltigen und ruinieren lassen, so daß sie nichts mehr zu verlieren hätte? Ihre Haut war klamm vor Aufregung, doch ihre Stimme bebte nicht, und sie
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