Wilde Chrysantheme
Begegnung in der Halle an ihrem ersten Tag wieder. Die Namen und Gesichter der anderen verschmolzen zu einem Wirrwarr dank der Schnelligkeit, mit der Mistress Dennison die Vorstellung übernahm; doch gelang es Juliana, sich Deborah zu merken und ihr Haar in Augenschein zu nehmen. Bella hatte recht mit ihrer Behauptung, daß es bei weitem nicht mit der schimmernden Lebhaftigkeit von Julianas Locken zu vergleichen sei. Aus einem unerfindlichen Grund empfand Juliana diese Erkenntnis als befriedigend, und sie begann sich zu fragen, was eigentlich mit ihr los war. Gewöhnlich verschwendete sie nur selten einen Gedanken auf ihr Äußeres und dennoch – hier war sie und musterte die anderen Mädchen, als wären sie ihre Rivalinnen oder etwas Ähnliches. Aber Rivalinnen um was?
Großer Gott!
Offensichtlich fing sie bereits an, wie eine Hure zu denken. Es musste etwas mit der Atmosphäre in diesem Haus zu tun haben.
Sie knickste höflich vor jeder Anwesenden, während ihre Begrüßung mit ähnlicher Höflichkeit erwidert wurde, und wurde sich dabei bewußt, daß sie ebenso scharf und abschätzend gemustert wurde, wie sie die anderen begutachtete.
»Setzen Sie sich doch, meine Lieben.« Elizabeth machte eine weitausholende Geste über den Tisch. »Nachdem wir jetzt vollzählig versammelt sind, besteht kein Grund mehr zu Förmlichkeiten. Juliana, nehmen Sie bitte neben Mr. Dennison Platz.«
Der Ehrenplatz? Juliana steuerte auf den Stuhl zu Richards Rechter zu. Er zog ihn für sie heraus und verbeugte sich, als fände tatsächlich dieses Dinner statt, um sie zu feiern.
Ein Lakai bewegte sich um den Tisch und schenkte die Weingläser ein. »Möchten Sie von dem Rebhuhn probieren, Juliana?« fragte Lilly, während sie geschickt die Brust eines Vogels auf einer Silberplatte vor ihr zerteilte.
Juliana bemerkte, daß die meisten Mädchen mit einer der verschiedenen Servierplatten beschäftigt waren und Karpfen in Buttersoße entgräteten oder Enten, Tauben und Rebhühner zerlegten.
»Sind Sie geschickt im Tranchieren, Juliana?« erkundigte sich Richard. »Wir betrachten es als eine notwendige Fertigkeit für eine gebildete junge Dame von Lebensart.«
Für eine Hure?
hätte Juliana beinahe gefragt, aber es gelang ihr gerade noch, die Worte hinunterzuschlucken. Warum sollte sie ihre Tischgenossinnen beleidigen, wenn sie mit deren Aufpassern im Konflikt lag? »Die Ehefrau meines Vormunds hielt es ebenfalls für unerlässlich«, antwortete sie neutral. Die Tatsache, daß sie einen Vogel ebensowenig elegant zerteilen konnte, wie sie einen geraden Saum zu nähen imstande war, spielte keine Rolle. Sie war zwar bewandert in beiden Künsten, nur zu ungeduldig, um entweder das eine oder das andere besonders gewandt auszuführen.
Sie trank einen Schluck Wein und hörte den Tischgesprächen zu. Die jungen Frauen in ihren raschelnden Seidengewändern plapperten wie eine Schar buntschillernder Vögel. Alle schienen in heiterster Stimmung zu sein, erzählten Witze und sprachen sowohl über ihre Kunden als auch über andere Frauen, die das Haus verlassen hatten, um als Mätresse eines Mitglieds des Adels in Wohlstand und Sicherheit zu leben.
Juliana sagte nichts, und niemand versuchte, sie in die Unterhaltung mit einzubeziehen; doch sie war sich durchaus der prüfenden Seitenblicke der anderen bewußt, die sie einzuordnen versuchten. Sie fragte sich, ob diese Zurschaustellung von unbeschwerter Fröhlichkeit speziell ihretwegen veranstaltet wurde… ob die Mädchen angewiesen worden waren, ihr ein sorgloses, amüsantes Leben unter dem Dach der Dennisons und glänzendste Zukunftsaussichten vorzugaukeln. Wenn dem so war, änderte es erst recht nichts an ihrer Einstellung, und es half auch nicht, ihren Argwohn und ihre Besorgnis zu beschwichtigen.
Richard Dennison sagte ebenfalls wenig und überließ es seiner Frau, die Unterhaltung zu lenken. Aber Juliana hatte das Gefühl, daß seine Augen überall waren, und ihr fiel auf, daß einige der Mädchen zögernd in ihrer Rede innehielten, wenn sie spürten, daß er in ihre Richtung sah. Ihr Zuhälter übte ohne Zweifel einen mächtigen Einfluß auf sie aus.
An dem Essen selbst konnte Juliana jedoch nichts auszusetzen finden. Nach dem ersten Gang folgten weitere, bestehend aus Kiebitzeiern, gedünsteten Wachtelbrüstchen, pikanten Pasteten, Weinschaumcreme, einem Korb voll Mürbegebäck und einer Obstspeise mit Sahne. Juliana verdrängte ihre Besorgnis für den Augenblick und aß mit
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