Wilde Chrysantheme
ausstieg.«
Er schlurfte in die Küche, und George fluchte unterdrückt vor sich hin. Im »Rose and Crown« in Winchester hatte man ihm nicht weiterhelfen können. Keiner konnte sich mehr daran erinnern, wer am Freitag oder auch am Samstag auf der Passagierliste gestanden hatte. Die Küchenmagd glaubte sich an einen jungen Burschen zu erinnern, der am Freitag in die Postkutsche gestiegen war; aber sie war mit dieser Information erst herausgerückt, nachdem George mehrere Sixpencemünzen hatte springen lassen, und er konnte sich nicht sicher sein, ob ihre Aussage wirklich der Wahrheit entsprach. Außerdem passte ein junger Bursche nicht auf die Beschreibung der üppigen Juliana.
Er knöpfte den obersten Knopf seines Überziehers auf und fächelte sich mit der Hand Luft zu. Eine dicke Fliege brummte über einer Platte mit zerfließendem Stiltonkäse auf der Theke. Der einzige andere Gast war ein älterer Mann, der in der Nische am Kamin saß und eine Pfeife paffte, während er abwechselnd in das Sägemehl zu seinen Füßen spuckte und Schaum von seinem Ale blies.
Die Geräusche der Großstadt drangen durch die offene Tür herein, zusammen mit den Gerüchen. George war mit den Gerüchen auf den Höfen der Pachtbauern durchaus vertraut, aber der üble Gestank verwesender Innereien und Exkremente in der warmen Mittagssonne reichte, um einem Mann den Appetit auf sein Essen zu nehmen. Ein Karren ratterte auf eisenbeschlagenen Rädern vorbei, und ein Straßenhändler pries mit lauter, durchdringender Stimme seine Waren an. Eine Frau schrie. Gleich darauf ertönte das häßliche Geräusch eines brutalen Schlages auf weiches Fleisch. Ein Hund bellte schrill. Ein Kind weinte jämmerlich.
George widerstand dem Drang des Landmannes, sich die Ohren zuzuhalten. Der Krach und das hektische Treiben der Großstadt machten ihn nervös und gereizt, aber er würde sich wohl oder übel daran gewöhnen müssen, wenn er Juliana finden wollte. Sie musste hier irgendwo in London sein. Es war der einzig logische Aufenthaltsort für sie. Auf dem Land gab es keinen Ort, wo sie sich hätte verstecken können, und in Winchester oder einer der anderen Kleinstädte würde sie unweigerlich entdeckt werden. Ihre Geschichte war inzwischen in aller Munde.
»Tja, scheint ganz so, als hätten Sie Glück, Sir.« Strahlend kehrte Joshua aus der Küche zurück.
»Und?« George versuchte vergeblich, seinen Eifer in seiner Stimme, seinem Ausdruck zu dämpfen.
»Scheint, als hätte einer der Küchenjungen eine junge Person gesehen so ähnlich wie die, die Sie beschrieben haben.« Joshuas Blick war starr auf die Goldmünze gerichtet, die noch immer auf der Theke lag. George schob sie zu ihm hinüber, und der Wirt ließ sie hastig in seiner Tasche verschwinden.
»Er konnte aber nicht so genau sagen, aus welcher Kutsche sie ausgestiegen war, Chef. Es hätte auch die Postkutsche aus Winchester sein können.«
»Und wo ist sie hingegangen?«
Joshua zupfte erneut an seinem Ohrläppchen. »Das wußte der Bursche nicht genau, Euer Ehren. Sie ist aus dem Hof verschwunden mit all den anderen Fahrgästen.«
Möglicherweise bin ich in einer Sackgasse gelandet. Oder vielleicht doch nicht?
George runzelte nachdenklich die Stirn in dem dämmrigen, staubigen, nach Abort stinkenden Schankraum. Zumindest wußte er jetzt, daß sie sich in London aufhielt und daß sie in Cheapside angekommen war. Irgend jemand würde sich sicherlich an sie erinnern. Soweit er wußte, hatte sie kein Geld. Es hatte ganz den Anschein, als hätte sie nichts aus dem Haus mitgenommen… eine Tatsache, die die Polizisten mächtig verwirrt hatte. Warum sollte eine Mörderin davor zurückscheuen, ihr Verbrechen durch Raub abzurunden? Es ergab einfach keinen Sinn.
»Welche Kleidung hat sie getragen?«
Joshuas kleine Schweinsaugen verengten sich zu Schlitzen. »Keine Ahnung, Chef. Was sie anhatte, konnte der Bursche nicht genau erkennen. Es war früher Morgen. Nicht viel Licht. Und der Hof ist das reinste Tollhaus um die Tageszeit. Hier herrscht immer so ein Gewimmel, wenn die Kutschen eintreffen.«
Georges Stirnrunzeln verstärkte sich. »Bringen Sie mir eine Flasche Burgunder«, verlangte er plötzlich. »Und ich nehme doch an, daß Sie mir ein Hammelkotelett vorsetzen können.«
»Klar, Chef. Kein Problem. Ein leckeres Hammelkotelett, gekochte Kartoffeln und frische grüne Bohnen, wenn Sie woll'n.« Joshua strahlte übers ganze Gesicht. »Und zum Nachtisch kann ich Ihnen ein schönes Stück
Weitere Kostenlose Bücher