Wilde Chrysantheme
rasantem Tempo um eine Ecke bogen. Der Kutscher schien die Verfolgungsjagd zu genießen und nahm die Straßenecke auf zwei Rädern, so daß George wild hinund hergeschüttelt und dann in die rissigen, fleckenübersäten Lederpolster zurückgeworfen wurde. Er richtete sich mit einem Fluch wieder auf und beugte sich erneut aus dem Fenster.
»So, da sind wir, Chef. Ranelagh Gardens«, brüllte der Kutscher hinunter, als er die Droschke vor dem schmiedeeisernen Tor zum Stehen brachte. »Wollen Sie, daß ich reinfahre?«
»Nein, lassen Sie nur, ich werde zu Fuß gehen.« George sprang auf das Straßenpflaster, bezahlte den Kutscher und eilte in die Gärten. Er bezahlte die Eintrittsgebühr von einer halben Krone, bevor er sich auf den Weg zu der Rotunde machte, wo er die drei, wie er annahm, finden würde.
Für den Rest des Abends heftete sich George beharrlich an Julianas Fersen, immer sorgsam darauf bedacht, außerhalb ihres Blickfeldes zu bleiben. Er beobachtete sie, wie sie in einer der Nischen der Rotunde zur Nacht speiste und dem Orchester in der Mitte zuhörte. Sie war lebhaft und in ausgelassener Stimmung, aber er konnte keine Anzeichen erkennen, die auf eine etwaige körperliche Beziehung zu ihren beiden Begleitern hindeuteten.
Wenn Juliana als ihre Mätresse dort wäre, hätte er verstohlenes Getätschel, gelegentlich einen Kuß und offenkundiges Geflirte erwartet; eher erinnerte ihn, trotz Julianas eleganter Aufmachung, das Trio eigenartigerweise an ein junges Mädchen und zwei nachsichtige Onkel, die ihre Lieblingsnichte zu einem vergnüglichen Abend eingeladen hatten.
Zutiefst verwirrt folgte George den dreien aus dem Garten hinaus, gerade als der Morgen zu dämmern begann. Er winkte erneut eine Mietdroschke herbei und wies den Kutscher an, der gelb-schwarzen Karosse zu folgen; als das herzogliche Gefährt vor einem Haus in der Albermarle Street hielt, befahl er dem Kutscher jedoch vorbeizufahren. George prägte sich das Haus ins Gedächtnis ein, als die Herrschaften die hellerleuchtete Eingangshalle betraten. Dann lehnte er sich in die Polster zurück und dachte angestrengt über die Rätsel des Abends nach.
Juliana hatte das Haus in Begleitung der beiden Männer betreten. Das konnte nur bedeuten, daß sie dem ältesten Gewerbe der Welt nachging. Und zwar ziemlich weit oben auf der gesellschaftlichen Leiter. Aber sie war trotzdem die Mörderin seines Vaters. Eine Hure konnte nicht erwarten, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen, wie mächtig und einflußreich ihre Beschützer auch sein mochten.
Er würde so viel wie möglich über jene beiden Männer herausfinden und dann den richtigen Augenblick abwarten. Juliana konnte sich auf eine Überraschung gefaßt machen!
12. Kapitel
»Guten Morgen, Mylady.«
Juliana tauchte aus den Tiefen eines warmen und verschwommenen Traumes auf, als sich plötzlich helles Sonnenlicht über das Bett ergoß. Sie blinzelte und stützte sich auf einen Ellenbogen.
Eine kleine Frau, rund wie ein polierter Apfel, mit blassen blauen Augen und grauem Haar unter einer frisch gestärkten weißen Haube stand neben dem Bett, an dem sie gerade die Vorhänge aufgezogen hatte, um das Tageslicht hereinzulassen. Sie knickste höflich. »Guten Morgen«, sagte Juliana. »Sie sind sicher…
»Mistress Henley, M'lady. Aber die Familie nennt mich nur Henny. Wenn Sie also so freundlich sein würden, das gleiche zu tun, werden wir sehr gut miteinander auskommen.«
»In Ordnung, Henny.« Juliana setzte sich im Bett auf und blickte sich in dem hübsch eingerichteten Schlafgemach um, während die Ereignisse der vergangenen Stunden an ihr vorüberzogen. Errötend blickte sie auf den Haufen achtlos hingeworfener Kleidungsstücke am Boden vor dem Fenster. Der Herzog hatte darauf bestanden, die Zofe für sie zu spielen, nachdem sie von Ranelagh zurückgekehrt waren, und er hatte nur wenig Rücksicht auf das empfindliche Seidenkleid und den feinen Batist ihrer Unterwäsche genommen. »Ich bitte um Entschuldigung, daß ich meine Kleider in einer solchen Unordnung zurückgelassen habe«, sagte sie.
»Gütiger Himmel, Mylady, wozu bin ich denn hier?« winkte Henny heiter ab. »Ich werde sie in Null Komma nichts aufgehoben haben, während Sie Ihre Morgenschokolade trinken.« Sie wandte sich ab, um nach einem Tablett zu greifen, und stellte es auf Julianas Knie. Dampf kräuselte sich aromatisch aus der Tülle eines silbernen Kännchens.
Julianas Augen wurden groß vor Überraschung angesichts
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