Wilde Flammen
Frühling war ins Land gezogen, die Weiden erstrahlten in frischem jungen Grün. Die ersten Wildblumen wuchsen, und ihr zarter Duft erfüllte die Luft. Die Tage wurden wärmer, auch wenn der Zirkus sich Richtung Norden bewegte. Abends blieb es immer länger hell. Alle Artisten genossen die laue Luft der sonnigen Tage, nur Jo fühlte sich unausgeglichen und angespannt.
Da war diese Vorstellung, die sie mehr und mehr quälte: Nachdem Keane nun wieder zu seinem Leben in Chicago zurückgekehrt war, hatte er sicher gar keine Lust mehr, zum Zirkus zurückzukommen. Wozu auch? Dort in der GroÃstadt hatte er Luxus und Reichtum und elegante Frauen.
Dazu kam die Sorge um ihre eigene Zukunft: Welches Schicksal würde den Zirkus ereilen? Ob Keane beschloss, ihn nach Ablauf der Saison aufzulösen?
Immer wieder versicherte Jo sich, dass sie Keane nur aus einem einzigen Grund noch einmal treffen wollte: Sie musste ihn irgendwie dazu überreden, den Zirkus zu erhalten. Alles andere war unwichtig. Doch die Erinnerung an den leidenschaftlichen Kuss schlich sich viel zu oft in ihre Gedanken. So zog sie sich mehr und mehr in sich selbst zurück und füllte die seltsame Leere in ihrem Innern mit Arbeit.
Mehrmals pro Woche fand sie Zeit, Gerry unter ihre Fittiche zu nehmen. Sie erlaubte ihm, sich um zwei der jüngeren Löwen zu kümmern. Mit festen Lederhandschuhen geschützt, konnte er mit ihnen spielen, sie füttern und ihnen die ersten kleineren Tricks beibringen. Zufrieden sah Jo zu, wie die Tiere allmählich auf Gerry reagierten und ihm gehorchten. Jedes Mal, wenn die beiden jungen Raubkatzen ein Kommando befolgten, wurden sie mit einem kleinen Stück rohem Fleisch belohnt.
Gerry hatte ganz sicher Potenzial. Jo spürte seine aufrichtige Zuneigung zu den Tieren, und er zeigte Entschlossenheit. Allerdings hatte er bisher noch nicht den nötigen Respekt, oder besser gesagt, eine gesunde Angst entwickelt. Er war zu lässig, und mit der Lässigkeit kam unweigerlich auch die Gefahr. Erst wenn Gerry an diesem Manko weiter arbeitete, würde Jo ihn zur nächsten Phase im Training mit den Löwen führen.
An diesem Vormittag fand keine Matinee-Vorstellung statt, und so hallte das Hauptzelt vom Lärm probender Artisten wider. Jo trug Stiefel, Kakihosen und eine langärmelige Bluse. Zusammen mit Gerry stand sie vor dem Käfig in der Manege und deutete mit dem Peitschengriff auf die im Halbkreis aufgestellten Hocker.
»Also, pass auf. Buck wird Merlin in den Ring lassen. Merlin ist der Friedfertigste von allen, abgesehen von meinem lieben alten Ari. Aber Ari ist selbst zu dem kürzesten Training nicht mehr in der Lage.« Ihre Augen blickten traurig, doch sie schüttelte das bedrückende Gefühl schnell ab. »Merlin kennt dich, er ist an deine Stimme und an deinen Geruch gewöhnt.« Gerry schluckte und nickte stumm. »Wenn wir hineingehen, bleibst du immer dicht bei mir. Du bist praktisch mein Schatten. Du bewegst dich, wenn ich mich bewege. Und du machst den Mund nicht eher auf, bis ich es dir sage. Solltest du es mit der Angst zu tun bekommen â nur nicht rennen!« Sie fasste ihn eindringlich beim Arm. »Das ist wichtig, verstehst du? Nie rennen! Sag mir Bescheid, wenn du rauswillst, und ich bringe dich zum Ausgang.«
»Ich werde nicht rennen, Jo«, versicherte er ihr, musste sich aber die feuchten Handflächen an der Jeans abwischen.
»Bereit?«
Gerry nickte und grinste schief. »Ja.«
Jo öffnete die Tür zum groÃen Manegenkäfig. Hinter Gerry legte sie den Riegel wieder vor. Mit ausholenden Schritten ging sie bis in die Mitte der Manege. »Lass ihn rein, Buck«, rief sie ihrem Helfer zu, und sofort war das Geräusch eines sich öffnenden Gitters zu hören. Merlin kam durch den engen Gang in die Arena und sprang auf seinen Hocker. Erst gähnte er ausgiebig, bevor er die Augen auf Jo richtete.
»Heute gibt es ein Solo für dich, Merlin«, sprach sie mit dem Löwen, während sie sich ihm näherte. »Du bist der alleinige Star. Bleib hinter mir«, wies sie Gerry scharf an, weil der Junge einfach nur stehen blieb und die groÃe Raubkatze anstarrte. Merlin dagegen warf nur einen gelangweilten Blick auf Gerry und wartete.
Jo streckte einen Arm gerade in die Luft, Merlin richtete sich auf die Hinterpfoten auf. »Du weiÃt ja«, sagte sie zu dem Jungen neben sich, »einem Löwen
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