Wilde Flammen
beizubringen, auf seinen Hocker zu springen, ist die allererste Ãbung. Dabei hält das Publikum es für selbstverständlich. Sich aufzurichten ist die zweite Ãbung.« Sie bedeutete Merlin, sich wieder fallen zu lassen. »Und es dauert, bis sie das begriffen haben. Dazu muss man auch erst ihre Rückenmuskulatur stärken.«
Sie gab Merlin ein weiteres Zeichen, und er schlug mit den groÃen Tatzen in die Luft und lieà ein beeindruckendes Brüllen hören. »Du bist ein wunderbarer Schauspieler«, lobte Jo ihren Löwen mit einem Grinsen. »Das Kommando muss immer von derselben Stelle aus gegeben werden, in der gleichen Stimmlage. Das bedeutet unzählige Wiederholungen und endlose Geduld. Jetzt pass auf, Gerry, ich lasse Merlin von seinem Hocker herunterkommen.«
Jo knallte mit der Peitsche und führte den Löwen dann zu der Stelle in der Manege, wo er sich hinlegen sollte. Dabei achtete sie darauf, dass ihr Schüler dicht neben ihr blieb.
»Dieser Käfig hat einen Durchmesser von etwas über dreizehn Metern. Du musst jederzeit jeden Zentimeter im Kopf haben«, sagte sie zu Gerry. »Du musst auch immer wissen, wie viel Platz dir noch bis zu den Gittern bleibt. Kommst du zu nah an die Gitterstäbe, hast du keinen Spielraum mehr, um nötigenfalls auszuweichen. Das ist einer der schlimmsten Fehler, die ein Dompteur machen kann.« Auf ihr Signal hin legte Merlin sich zu Boden und rollte sich auf die Seite. »Drehen, Merlin«, befahl sie knapp, und der Löwe vollführte mehrere Drehungen über den Boden. »Benutze so oft wie möglich ihre Namen, so hältst du die Verbindung zu ihnen aufrecht. AuÃerdem musst du die Eigenheiten jeder Katze kennen. Sie alle haben verschiedene Persönlichkeiten.«
Jo folgte Merlin, dann befahl sie ihm, still zu liegen. Als er brüllte, strich sie ihm lobend mit dem Peitschenstock über die Mähne. »Sie mögen es, gestreichelt zu werden, genau wie Hauskatzen. Aber täusche dich nicht, es sind keine zahmen Haustiere. Deine Aufmerksamkeit darf nie nachlassen, und vor allem musst du ihnen immer zeigen, wer das Sagen hat. Das erreichst du nicht mit Schlägen und Schreien, das wäre nur Quälerei, sondern mit Geduld, Willenskraft und gegenseitigem Respekt. Sie haben ihren Stolz, also lass ihn ihnen. Du sollst sie nicht zu unterwürfigem Gehorsam zwingen, sondern du musst sie austricksen.«
Jo hob beide Arme, und Merlin richtete sich auf die Hinterpfoten auf. »Der Mensch ist ein unbekannter Faktor für sie. Deshalb arbeite ich auch lieber mit Löwen, die in der Wildnis geboren wurden. Ari ist da die Ausnahme. Einem in Gefangenschaft geborenen Raubtier ist der Mensch zu vertraut. Da können sich Grenzen verwischen.«
Sie lief durch die Manege, und Merlin folgte ihr auf den Hinterpfoten mit hoch in die Luft gereckten Tatzen. Auf diese Weise überragte er seine kleine, zierliche Dompteuse um ein beträchtliches Stück. Gerry hielt die Luft an, doch Jo fuhr ruhig fort: »Löwen können mit der Zeit ziemlich anhänglich werden, aber dann lässt auch der Respekt nach. Das passiert oft, wenn eine Raubkatze lange mit demselben Trainer arbeitet. Sie werden nicht zahmer, sondern gefährlicher, je länger sie in der Show sind. Sie werden ständig versuchen, dich zu testen. Der Trick dabei ist, sie glauben zu lassen, dass dir nichts etwas anhaben kann. Dass du unbesiegbar bist.«
Sie gab Merlin das Zeichen, sich wieder auf alle viere fallen zu lassen. Er gähnte ausgiebig und lief zu seinem Hocker zurück. »Wenn sie nach dir schlagen, musst du sie sofort aufhalten und auf ihren Platz verweisen, denn sie werden es immer und immer wieder versuchen und jedes Mal näher an dich herankommen. Wenn ein Trainer im Käfig verletzt wird, dann nur, weil er einen Fehler gemacht hat. Tiere haben ein untrügliches Gespür für Fehler, manchmal reagieren sie nicht darauf, dann wiederum springen sie sofort darauf an. Merlin hier hat mir schon mehrere Male einen freundschaftlichen Schlag mit der Pranke versetzt. Bisher hat er die Krallen immer eingezogen behalten, doch irgendwann vergisst er vielleicht, dass er nur spielen will. Noch Fragen?«
»Hunderte.« Gerry wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Im Moment fällt mir nur keine ein.«
Jo lachte leise und kraulte Merlin zärtlich die Mähne. »Die kommen dir später, sobald du
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