Wilde Flammen
Und du warst länger weg, als du vorhattest.«
Er sah aus wie immer. Hastig erinnerte sie sich daran, dass es nur ein Monat gewesen war, auch wenn es ihr schon wie Jahre vorkam.
»Ja, es gab da mehr zu erledigen, als ich voraussehen konnte.« Mit einem Finger strich er ihr über die Wange. »Du bist blass.«
»Ich konnte nicht oft in der Sonne sein«, wich sie aus. »Wie warâs in Chicago?«
»Kalt.« Forschend musterte er ihr Gesicht. »Warst du schon mal dort?«
»Nein. Gegen Ende der Saison kommen wir in die Nähe, aber ich habe noch nie die Zeit gefunden, auch wirklich in die Stadt hineinzufahren und sie mir anzusehen.«
Keane nickte nur und richtete seinen Blick auf den Käfig. »Du lernst also Gerry an.«
»Ja.« Erleichtert nahm sie den Themenwechsel auf und lockerte die verspannten Schultermuskeln. »Es war das erste Mal für ihn. Bisher ist er einer erwachsenen Raubkatze noch nie so nahe gewesen, ohne dass ein Gitter dazwischen war. Er hat es sehr gut gemacht.«
Keane schaute ihr ernst in die Augen. »Vom Zuschauerraum aus konnte ich ihn zittern sehen.«
»Es war sein erstes Mal«, setzte sie zu Gerrys Verteidigung an.
»Das sollte auch keine Kritik sein«, fiel Keane ihr leicht ungeduldig ins Wort. »Ich wollte damit nur sagen, dass er am ganzen Körper gezittert hat, während du absolut beherrscht und gelassen danebenstandest.«
»Beherrschung gehört nun mal zu meinem Job.«
»Dieser Löwe überragte dich mindestens um einen Meter, als er auf den Hinterpfoten lief. Und du hattest nicht einmal den üblichen Stuhl als Schutz.«
»Mir geht es um den Gesamteindruck, um flieÃende Bilder. Ich kämpfe nicht mit meinen Tieren.«
»Jo.« Es klang so scharf, dass sie blinzelte. »Hast du denn niemals Angst, wenn du da in dem Käfig stehst?«
»Angst?«, wiederholte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Natürlich habe ich Angst. Ich habe mehr Angst, als Gerry sie hatte. Oder als du sie haben würdest.«
»Wovon redest du überhaupt?« Seinen Ãrger konnte Keane sich nicht so recht erklären. »Ich hab doch gesehen, wie dem Jungen da drinnen vor Angst fast die Beine versagt haben.«
»Das kam mehr von der Aufregung«, erklärte Jo geduldig. »Er ist noch viel zu unerfahren, um wirkliche Angst zu verspüren.«
Sie schüttelte das Haar zurück und seufzte. Sie sprach nicht gern über ihre Ãngste, mit niemandem. Gegenüber Keane erschien es ihr besonders schwierig. Und nur weil er alles über den Zirkus wissen sollte, fuhr sie fort: »Die echte Angst kommt, je besser man sie kennt, je länger man mit ihnen arbeitet. Gerry und du, ihr könnt nur mutmaÃen, was so ein Löwe mit euch anstellen kann. Ich weià es. Ich weià genau, wozu sie fähig sind. Sie besitzen unbezwingbaren Mut, aber mehr noch, sie sind listig und verschlagen.«
Sie blickte Keane eindringlich an. »Mein Vater hätte fast sein Bein verloren. Ich war dabei und hab gesehen, was passiert ist. Damals war ich fünf, aber noch heute erinnere ich mich daran. Dad hatte einen Fehler gemacht, und ein fast dreihundert Kilo schwerer afrikanischer Löwe biss zu und schleifte Dad am Bein durch die Arena. Glücklicherweise lieà der Löwe sich durch ein paarungsbereites Weibchen ablenken. In der Paarungszeit sind die GroÃkatzen völlig unberechenbar, wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb der Löwe überhaupt angegriffen hat. Die Männchen sind extrem eifersüchtig, wenn sie sich ein Weibchen auserkoren haben.«
Jo holte tief Luft. »Irgendwie gelang es meinem Vater, sich zum Ausgang zu schleppen, bevor die anderen Tiere auf ihn aufmerksam wurden. Ich weià gar nicht mehr, mit wie vielen Stichen die Wunde genäht werden musste. Es dauerte ewig lang, bevor er wieder normal laufen konnte. Und den Ausdruck in den Augen des Löwen werde ich nie vergessen. Wenn man im Käfig mit den Tieren zusammen ist, lernt man bald, was echte Angst ist. Aber man kontrolliert sie, nutzt sie für sich. Wer das nicht kann, muss sich einen anderen Beruf suchen.«
»Warum machst du es?« Er fasste sie bei den Schultern, weil sie sich abwenden wollte. »Und sag nicht wieder, es sei dein Job. Das reicht nicht als Erklärung.«
Jo verstand nicht, wieso Keane so verärgert war. Seine Miene war ausgesprochen finster, und seine
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