Wilde Flucht
übersehen zu haben. Sie war klein und ruhig und saß in einem Rollstuhl. Ihr Rücken war so stark gekrümmt, dass ihr Oberkörper in einem Winkel von fünfundvierzig Grad vorstand. Ihre Augen waren groß, aber leer, und ihr dünnes, hellbraunes Haar war mit Spray in die Form eines Helms gebracht. Ein verkümmerter Arm lag auf der Lehne ihres Stuhls wie ein Stück Seil, und der andere, der in ihrem Schoß lag, war nicht zu sehen. Sie musste mindestens siebzig Jahre alt sein, doch war ihr Alter schwer zu schätzen.
» Verzeihung, dass ich Sie nicht gleich bemerkt habe«, sagte Joe und nahm den Hut ab. » Und danke für das Angebot, aber danke.«
» Sie haben mich für ein Möbelstück gehalten, nicht wahr?«, fragte sie mit hoher Stimme.
Joe wusste, dass er knallrot wurde. Genau daran hatte er gedacht.
» Streiten Sie es nur nicht ab«, sagte sie tadelnd, und ihr kurzes Lachen danach ließ Joe an Schluckauf denken. » Wäre ich eine Schlange, hätte ich Sie beißen können.«
Joe stellte sich ihr vor, und sie sagte, ihr Name sei Ginger. Er hatte gehofft, mehr von ihr zu erfahren, und war sich nicht sicher, ob sie Finottas Frau oder Mutter war. Oder jemand anderes. Und er wusste nicht, wie er danach fragen sollte.
Jim Finotta erschien. Der kleine Mann trug eine lässige Bundfaltenhose und ein kurzärmeliges Polohemd. Er war schlank und dunkelhaarig, und über seiner hohen Stirn erhob sich ein mächtiger Haarschopf. Sein Gesicht wirkte verdrießlich, ja verhärmt und ließ vermuten, dass seine Mundwinkel meist ablehnend gesenkt waren. Seine gesamte Körperhaltung zeugte von Ungeduld und Aufgeblasenheit.
Die Sohlen seiner 800-Dollar-Stiefel aus Straußenleder glitten über den Hartholzboden, doch er blieb an der Wand gegenüber unter einem Gemälde stehen, das ein echter Charles Russell zu sein schien, und redete, ohne Joe dabei in die Augen zu sehen. Er nickte Ginger freundlich zu und fragte sie, ob es ihr etwas ausmache, wenn er sich mit dem » hiesigen Jagdaufseher« kurz in seinem Büro unterhalte. Ginger summte ihre Zustimmung, und Finotta lächelte sie an. Mit einer Kopfbewegung forderte er Joe auf, ihm zu folgen.
Das Büro war ein Arbeitszimmer im klassischen englischen Stil, dessen vom Boden bis zur Decke reichende Regale vor allem mit juristischen Büchern bestückt waren. Ein gerahmter Druck, der eine Fuchsjagd zeigte, hing hinter dem wuchtigen Mahagonischreibtisch, und eine Lampe mit grünem Schirm gab das meiste Licht. Der gewaltige Kopf eines Wapitibullen war im Halbdunkel über der Tür an der Wand angebracht. Finotta ging forsch um den Tisch herum, setzte sich auf den Stuhl, faltete die kleinen Hände und sah Joe erwartungsvoll an, ohne ihm einen Platz anzubieten.
» Sie haben in den Bighorns in der Nähe der Hazelton Road Rinder weiden?«, fragte Joe und fühlte sich in Finottas Arbeitszimmer unwohl und fehl am Platz.
» Ich habe zweitausend Tiere praktisch überall in den Bighorns, in Twelve Sleep und in Johnson County«, erwiderte Finotta knapp. » Weitere elfhundert Tiere grasen im Sommer auf unseren Hochweiden. Doch wie kann ich Ihnen helfen?« Finotta versuchte gar nicht, seine Ungeduld zu verbergen.
» Nun«, sagte Joe, und seine Stimme erschien selbst ihm schwach, » mindestens zehn davon sind tot. Und vielleicht ist auch ein Mensch ums Leben gekommen.«
Finotta verzog die Augenbrauen zu einem » Und weiter?«, zeigte sonst aber keine Reaktion. Joe erklärte ihm rasch, was sie am Vorabend gefunden hatten.
Als er fertig war, antwortete Finotta mit gezwungenem Lächeln: » Die Rinder gehören mir, doch wir vermissen keine Beschäftigten – ich kann Ihnen also nicht helfen. Was die Tiere angeht: Sie sind, sie waren Zuchtvieh und als solches pro Stück mindestens 1200 Dollar wert. Also dürfte mir irgendwer 12 000 Dollar schulden. Könnte es sich dabei um die Jagd- und Fischereibehörde handeln?«
Finottas Frage kam für Joe völlig überraschend. Er hatte nicht gewusst, wie der Anwalt auf die Nachricht reagieren würde, dass zehn seiner Tiere bei einer Explosion getötet worden waren, und hatte allenfalls mit Wut oder Verwunderung gerechnet, doch auf eine solche Antwort wäre er nie gekommen. Der Staat ersetzte den Ranchern Schäden an Vieh und Inventar, sofern sie durch Wild verursacht worden waren – wenn beispielsweise ein Wapitirudel Heu gefressen hatte, das für Rinder gedacht war, oder wenn Elche Zäune durchbrochen hatten. Doch wie sollte seine Behörde für den Tod von zehn
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