Wilde Flucht
doch er hatte nicht das Gefühl, eine echte Rast gemacht zu haben. Sein Bewusstsein spielte ihm beunruhigende und gemeine Streiche. Er hatte Alpträume wegen Peter Sollito, Hayden Powell und Stewie Woods – und Träume, die von Freunden und Nachbarn bevölkert waren, die er seit vierzig Jahren nicht gesehen hatte und die ihn nun alle abzulehnen schienen. Sie steckten die Köpfe zusammen, zeigten mit dem Finger auf ihn und wichen ihm aus, sobald er auf sie zuging. Seine Großmutter, die seit zweiundzwanzig Jahren tot war, schürzte trotzig die Lippen und weigerte sich, mit ihm zu reden. Derart verwirrende, zusammenhanglose und fantastische Träume hatte er früher nur bei Fieber gehabt. Sein Rücken tat vom langen Sitzen im Pick-up weh, und selbst das Bett zwei Nächte zuvor hatte dagegen nichts ausrichten können. Seine Rückenmuskulatur war ganz verspannt, und nur mal eben die Arme zu heben bereitete ihm höllische Schmerzen. Seine Augen waren rotgerändert und brannten beim Öffnen. Er wäre nicht sehr überrascht gewesen, wenn ihm aus dem Rückspiegel statt seiner Augen glühende Kohlen entgegengeblickt hätten. Nicht nur deshalb trug er jetzt eine Sonnenbrille. Es verblüffte ihn, dass Charlie Tibbs keinen Schlaf zu brauchen schien. So muss es bei den Kreuzzügen gewesen sein, dachte der Alte.
Nun waren sie in Choteau, knapp zweihundertfünfzig Kilometer südlich der kanadischen Grenze, und warteten darauf, dass eine Frau ihr Flugzeug aus dem Hangar holte und losflog, auf dass sie stürbe. Die Welt kam ihm an diesem Morgen nicht allzu wirklich vor.
Ihr Opfer – eine erfolgreiche und leidenschaftliche Streiterin für die Wiederansiedlung von Wölfen namens Emily Betts – hatte nahezu im Alleingang durch ihre Schriften und Proteste, durch ihre Website und Aussagen bei Anhörungen die Wiederansiedlung des Timberwolfs im Yellowstone-Park und in Idaho erreicht, gegen die Rancher, Jäger und andere Einheimische Sturm gelaufen waren. Vor Jahren war sie fotografiert worden, als sie mit dem Innenminister die ersten zur Wiederansiedlung bestimmten Wölfe durch den Schnee zu den Zwingern im Yellowstone-Park brachte, von wo aus die Tiere in die Freiheit entlassen wurden. Der Alte hatte die Mitschrift einer Rede gelesen, die Emily Betts in Bozeman vor der Stiftung Bringt den Wolf zurück gehalten hatte. Sie hatte gesagt, wenn die Rancher im Westen und der Kongress es der Natur nicht erlaubten, im heiligen Kreislauf von Raub- und Beutetier zu existieren, müsse die widerwärtige Brut, die die Räuber erst ausgerottet habe, die Verantwortung für diesen Genozid übernehmen und die Arten, die sie zerstört habe, legal oder illegal wiederansiedeln. Mit der » widerwärtigen Brut« meinte sie die Menschen, und unter » diesem Genozid« verstand sie das Töten von Wölfen im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert durch Gift, Fallen und Kugeln.
Doch die Wiederansiedlung der Wölfe durch die US-Regierung ging Emily Betts nicht rasch genug. Darum zog sie nun auf eigene Faust ein geheimes Projekt durch, das aus Spenden finanziert wurde. In Kanada, wo es jede Menge Wölfe gab, wurden die Tiere lebend gefangen, nach Choteau gebracht und von Betts mit ihrem Privatflugzeug überall im gebirgigen Westen freigelassen.
Als sie um drei Uhr nachts bei dem Hangar angekommen waren, hatten der Alte und Tibbs zu ihrer Überraschung eine unverriegelte Seitentür entdeckt, waren geräuschlos reingeschlüpft und hatten die Tür hinter sich geschlossen. Drinnen war es stockdunkel gewesen.
Ehe der Alte die Taschenlampe anknipsen konnte, hörten sie hektisches Gerangel. Sie waren nicht allein im Hangar!
Intuitiv ließ sich der Alte auf ein Knie fallen, und Charlie Tibbs tat es ihm gleich. Der Alte hörte das unverkennbare Geräusch, mit dem Charlie seine Pistole durchlud, und erwartete, plötzlich – doch noch erwischt! – in grellem Licht zu stehen und Charlie eine Salve abfeuern zu hören. Stattdessen vernahm er ein leises Knurren, das ihm das Blut gefrieren ließ.
Sie standen wie angewurzelt in dem pechschwarzen Hangar, und ihre Sinne bebten. Der Alte stellte sich vor, wie die gähnende Mündung von Charlies Pistole die Halle langsam ringsum bestrich.
Schließlich befahl Charlie flüsternd, Licht zu machen. Der Alte setzte die Werkzeugkiste vorsichtig und lautlos auf den Betonboden, öffnete das Holster seiner Waffe, richtete die ausgeschaltete Lampe mit der Linken dorthin, von wo die Geräusche kamen, und zielte mit der
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