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Wilde Flucht

Wilde Flucht

Titel: Wilde Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Wildnis.«
    Marchand hatte eine Pause gemacht, um die Wirkung seiner Worte zu steigern, und dabei direkt in die Kamera eines großen Senders geblickt; er hatte so viel Erfahrung damit, dass er sofort sah, welche Kamera einem landesweiten und welche einem bloß lokalen Kanal gehörte. » Unser Gold hat gewonnen«, hatte er hinzugefügt, und dieser Satz war seither zum Slogan geworden.
    Jetzt sieht Tod Marchand ganz anders aus, dachte der Alte. Die Beule, die Tibbs ihm mit dem Gewehr zugefügt hatte, war unter seiner gefärbten Frisur verborgen, doch aus dem Haar war eine dunkelrote Blutspur geronnen und an Marchands markanter Nase getrocknet.
    Der Anwalt sah auch deshalb anders aus, weil er nun mit einer dünnen Schnur aus Rosshaar gefesselt war. Die Schnur schnitt ihm an mehreren Stellen in die Schultern, lief zu seiner Taille hinunter und war dann kreuz und quer von den Oberschenkeln bis zu den Fußknöcheln gebunden.
    Rosshaar sei gut, hatte Charlie gesagt, weil die Bären jeden Zentimeter davon auffressen und nichts übrig lassen würden. Um sie anzulocken, hatte er Marchand dicke Scheiben rohen, ungeräucherten Rückenspeck unter die Achseln und zwischen die Beine gebunden. Der Gestank war durchdringend.
    Nun, da er wieder bei vollem Bewusstsein war, sah Marchand langsam auf Schnur und Speck. Seine Gedanken waren sichtbar. Er war sehr verängstigt, und das nicht im edlen Sinne, wie der Alte fand. Marchand war bloß noch ein Nervenbündel.
    Charlie Tibbs ging an dem Alten vorbei, hockte sich vor Tod Marchand hin, schob sich den Stetson in den Nacken, zog einen Umschlag mit einem Blatt Papier aus der Tasche und faltete es auseinander.
    » Das hab ich in Ihrem Rucksack gefunden«, sagte Tibbs in seiner leisen, tiefen, schleppenden Rede. » Hier steht: › Lieber Tod, wir brauchen deine Hilfe – schnell. Sei rasch wie der Blitz.‹ Und es ist mit › Stewie‹ unterzeichnet.«
    Marchands Augen waren geweitet, und es war bloß das Weiße zu sehen; sie ließen den Alten an den Blick der Pferde denken, als diese die Bären gewittert hatten.
    » Dann folgt eine Wegbeschreibung zu einer Hütte. Der Stewie ist nicht zufällig Stewie Woods, oder? Aber wieso zelten Sie hier oben, obwohl Ihr berühmter Klient Sie so nötig braucht?«, fragte Tibbs nicht unfreundlich.
    Marchands Blick sprang von ihm zum Alten und zurück.
    » Ich hatte schon das ganze Jahr vor, dieses lange Wochenende hier zu verbringen«, erwiderte er.
    » Sie sind mir ein toller Kumpel«, sagte Tibbs und schnaubte verächtlich. » Es sei denn, Sie würden bezweifeln, dass Stewie Woods noch am Leben ist. Es sei denn, Sie denken, jemand habe Ihnen das zum Scherz geschickt.«
    Marchand ging rasch in die Knie. » Es ist Stewie«, sagte er und nickte. » Ich weiß, wo er sich aufhält. Ich werde es Ihnen verraten, wenn Sie mich gehen lassen. Ich werde nie jemandem etwas über das hier erzählen.«
    Der Alte schlug die Augen nieder und starrte für eine endlos lang anmutende Zeitspanne auf den Boden. Marchand zitterte sichtlich. Er sah den Alten in der Hoffnung auf Beruhigung oder Menschlichkeit an, doch der weigerte sich, ihm in die Augen zu sehen. Der Alte kannte Tibbs gut genug, um zu wissen, dass Tod Marchand genau das Falsche gesagt hatte – und viel zu schnell.
    Schließlich drehte Tibbs sich ein wenig herum und sah den Alten an. » Das wird eine gute Vorstellung«, sagte er, » vielleicht die bisher beste.«
    Der Alte nickte ausdruckslos. Ihm war plötzlich klar, dass er Charlie Tibbs nicht zu fassen vermochte. Es würde hässlich werden, hier zuzuschauen. Er war sicher, dass Tod Marchand das Gleiche empfand. Der Alte kam in diesem Moment zu dem Schluss, dass er zu weit gegangen war. Vielleicht so weit ins Böse, dass er nie mehr zurückkonnte.
    » Ich rieche Speck«, sagte Tibbs und wandte sich wieder dem Anwalt zu. » Das macht mich irgendwie hungrig. Meinen Sie, die Grizzlys auf der anderen Seite des Hügels riechen es auch?«
    Charlie Tibbs aß ein Stück Rinderdörrfleisch nach dem anderen und trank Eistee aus der Thermoskanne. Regelmäßig setzte er das Fernglas an die Augen. Unter ihnen auf der sumpfigen Wiese fraßen die Grizzlys Tod Marchand.
    Die Bärenmutter hatte ihn rasch gefunden, nachdem Tibbs den Anwalt zwischen ihr und ihren Jungen ins Gras geworfen hatte und davongeritten war. Sie hatte Marchand getötet, indem sie seinen Kopf ins Maul genommen und ihn energisch hin und her geschüttelt hatte, wie Welpen es mit alten Socken tun.

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