Wilde Flucht
merkte, dass die Schüsse aufgehört hatten. Vermutlich lud der Schütze nach. Joe griff nach unten, um sich zu vergewissern, dass sein .357er noch im Holster steckte, und war erleichtert, dass dem so war. Leider war Joe ein anerkannt schlechter Schütze und wusste, dass es fast unmöglich für ihn wäre, den Angreifer auf diese Entfernung zu treffen.
Dann ging das Schießen wieder los, doch in der Hütte geschah nichts. Der Schütze hatte sein Ziel gewechselt. Joe hörte in der Ferne Glas splittern und eine Kugel mit metallischem Klirren einschlagen.
» Er hat meinen Wagen entdeckt«, stieß er hervor.
Ihm fiel ein, dass seine Schrotflinte im Sattelfutteral steckte. Auf Knien und Ellbogen kroch er zur offenen Tür.
» Wohin wollen Sie?«, rief Britney hysterisch. » Lassen Sie uns etwa im Stich?«
» Beruhige dich, Britney«, flehte Stewie inständig.
Joe kroch von der Seite an die Tür und beugte sich vorsichtig vor. Dabei empfand er Gesicht und Kopf als schockierend ungeschützt und fragte sich, ob er die Kugel hören würde, ehe sie ihn träfe.
Auch Joe war praktisch zu nichts nutze. Der Schütze war etwa anderthalb Kilometer weit weg auf dem Hang gegenüber postiert. Joes .357er Magnum reichte nicht einmal halb so weit.
Lizzie war nicht, wo sie gestürzt war, doch Joe sah sie weiter unten am Waldrand im Schatten stehen. Der Sattel hatte sich gelockert und hing nun unter ihrem Bauch. Kaum machte sie einen Schritt, stockte sie und stand steif da. Er sah, dass die Kugel ihr das rechte Hinterbein zerschmettert hatte. Vom Sprunggelenk abwärts hing es wie ein gebrochener Ast herunter.
Plötzlich stob eine Wolke von Staub und Haar von ihrer Schulter auf. Lizzie zuckte zusammen und krümmte sich ins Sommergras, während ein weiterer Schuss durchs Tal rollte.
Dieser Drecksack, dachte Joe – dieser Drecksack hat Lizzie umgebracht!
Er schrak zurück, als eine weitere Kugel vom Kaliber .308 ein fußballgroßes Stück knapp über der Stelle aus dem Türrahmen schlug, an der eben noch sein Kopf gewesen war.
» Verdammt!«, brüllte Stewie.
Als Joe sich wieder zu ihm und Britney Earthshare unter den Tisch gesellte, verriet seine angespannte Kopfhaut ihm, dass seine Miene kreidebleich und furchtverzerrt war. Mit erstickter Stimme fragte er die beiden, ob die Hütte einen zweiten Ausgang habe.
Stewie meinte, es gebe eine Seitentür, die Charlie Tibbs aber vermutlich einsehen könne.
» Im Schlafzimmer ist ein Fenster«, sagte Britney mit klappernden Zähnen, als läge die Temperatur unter null.
Über Glasscherben, Holzsplitter, gerinnendes Blut und Fleischfetzen hinweg krochen sie zum Schlafzimmer. Eine Kugel durchschlug die Wand dreißig Zentimeter oberhalb des Bodens und bohrte sich in den Fuß des Herds, an dem Britney eben noch gekauert hatte. Joe spürte die ganze Hütte von diesem Einschlag zittern.
Im Schlafzimmer riss er Vorhänge und Gardinenstange des einzigen Fensters herunter und schob es auf. Es sah nach hinten raus, weg von dort, wo Charlie Tibbs Position bezogen hatte.
Britney zitterte, als Joe ihr aus dem Fenster half. Sie musste anderthalb Meter springen und kam nicht gut auf, erholte sich aber.
Stewie setzte sich aufs Fensterbrett und versuchte ächzend, die breiten Schultern durch den Rahmen zu bekommen.
» Mist, ich stecke fest«, jammerte er.
Mit dem Handballen drückte Joe gegen seine linke Schulter und zwängte ihn durch den Rahmen. Stewie sprang und kam elegant auf.
Ein Geräusch wie ein Beckenschlag kam aus dem großen Zimmer, als eine Kugel die Wand durchschlug und eine gusseiserne Bratpfanne über dem Herd traf.
Joe sprang aus dem Fenster, und seine Stiefel sanken in den weichen, von Kiefernnadeln bedeckten Boden.
» Wohin?«, fragte Britney.
» Nach Norden.« Joe wies in den Wald. » Achtet darauf, dass die Hütte uns möglichst lange Deckung gewährt. Bleibt im Wald und blickt euch nicht um, bevor wir über den Berg sind.«
» Ich hatte mich so auf Mary gefreut«, sagte Stewie. » Das ist wirklich ein Scheißtag geworden.«
Joe fuhr herum und schlug ihm auf die Nase. Stewie verlor den Halt und landete auf dem Hintern.
Er langte sich an die Nase, betrachtete das Blut an der Handfläche und funkelte Joe mit seinem verbliebenen Auge zornig an.
» Kein Wort mehr über meine Frau«, verfügte Joe und schüttelte seine Hand aus, die von dem Schlag wehtat.
Britney lief zu Stewie und half ihm auf. Er erhob sich mit einem verzerrten, manisch wirkenden Grinsen, das zu einer
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