Wilde Flucht
versuchte die Frau in der Zentrale, ihn zu erreichen, meldete aber nach einigen Versuchen, sein Radio sei entweder ausgeschaltet, oder er befinde sich in einem Funkloch. Beide Frauen wussten, wie schwierig es sein konnte, die Ordnungshüter in den Bergen zu erreichen.
Um halb sechs rief Marybeth im Büro des Sheriffs an. Joe hatte ihr versprochen, sich bei Barnum zu melden und ihm zu sagen, wohin er warum aufgebrochen war. Doch der Sheriff war in der Polizeiakademie von Wyoming in Douglas, um turnusgemäß seine Schießprüfung abzulegen, und Marybeth traute Deputy McLanahan nicht genug, um ihm von ihrem Verdacht zu berichten. Barnum wurde erst am späten Sonntagnachmittag zurückerwartet, doch sein Büro teilte ihr mit, Joe habe frühmorgens angerufen und seine Handynummer mit der Bitte hinterlassen, der Sheriff möge ihn – sollte er sich im Büro melden – umgehend anrufen.
Marybeth empfand kurz Wut auf Joe. Wie sie ihn kannte, hatte es ihn vermutlich gefreut, dass der Sheriff außer Haus war. So konnte er die Hütte auf eigene Faust untersuchen. Diese Art von Sturheit machte sie besorgt und wütend. Sie versuchte, sich zu beruhigen und sich zu sagen, es gehe ihm vermutlich bestens und er sei bloß per Funk und Handy gerade nicht erreichbar. Wahrscheinlich kam er in diesem Moment mit dem Pferdehänger aus dem Wald gerumpelt, nachdem er Stewie Woods getroffen oder auch nicht getroffen hatte. Er würde sich doch bestimmt bei ihr melden, wenn er konnte, oder? Er hatte verdammt noch mal kein Recht, sie in solche Ängste zu stürzen!
Sie trat aus Sheridans Blickfeld, um sich zu sammeln, atmete tief durch und beruhigte sich, um ihre Tochter nicht nervös zu machen, denn sonst würden sie sich in ihren Sorgen nur bestärken, und das würde zu nichts Gutem führen. Marybeth war froh, dass Lucy und April im Zeltlager der Kirche waren und sie ihre Sorgen nur vor einem Kind verbergen musste. Andererseits wollte sie in solchen Situationen alle Kinder um sich haben, um ihnen Schutz bieten zu können.
Sie dachte an Trey Crump, Joes direkten Vorgesetzten in Cody. Er war ein anständiger Kerl und würde es ihr nicht verübeln, wenn sie ihn um Rat fragte. Es war noch viel zu früh, um Panik zu schieben, doch wenn Trey davon erführe, hätte er vielleicht einige Ideen, wie man vorgehen könnte, und er war den Bergen – wenn auch von der anderen Seite – am nächsten, falls eine Suche nötig werden sollte.
Joe hatte sich die Wegbeschreibung kopiert, die sie bei Stewies Anruf zu Papier gebracht hatte, doch Marybeth vermutete das Original noch in dem kleinen Kopierer in seinem Büro. Sie merkte, dass ihre Tochter sie beobachtete, als sie durchs Wohnzimmer in Joes Arbeitsraum ging.
» Irgendwas nicht in Ordnung, Mom?«, fragte Sheridan.
» Nein, alles bestens«, erwiderte sie etwas zu rasch.
» Ach, das hab ich ganz vergessen«, sagte Sheridan aus ihrer Kissenburg. » Heute war ein Mann hier und hat einen Brief für Dad dagelassen.«
Marybeth kam mit dem Umschlag, auf dessen Rückseite die Adresse der Anwaltskanzlei Whelchel, Bushko & Marchand stand, aus dem Büro.
» So was musst du mir doch gleich sagen«, fuhr sie ihre Tochter an.
Sheridan war ganz achselzuckende Unschuld. » Hab ich doch gerade«, erklärte sie. » Außerdem wird ständig was für Dad abgegeben.«
Marybeth seufzte, denn Sheridan hatte ja Recht. Den Umschlag in der Hand, fand sie die Wegbeschreibung – wie vermutet – im Kopierer. Dann entzifferte sie die Worte auf der Vorderseite des Briefes.
Für den Jagdaufseher. Wichtig.
Wichtig genug, um den Brief sofort zu öffnen? Wichtig genug, damit die Frau des Jagdaufsehers ihn öffnete?
» Wie hat der Mann denn ausgesehen?«, fragte sie.
» Mensch, Mom, reg dich ab.« Sheridan stellte den Fernseher per Fernbedienung leiser. » Es war ein alter Mann, wahrscheinlich sechzig oder so. Er trug Cowboyhut und Jeans, hatte eine Wampe und schien ein netter Kerl zu sein. Er hat gesagt, er heiße Jim Coble oder so.«
Marybeth dachte darüber nach. Die Beschreibung war ihr keine große Hilfe. Sie wusste nur, dass sie den Mann nicht kannte.
Da Trey Crump nicht zu Hause war, sprach Marybeth mit seiner Frau. Sie waren sich einig, solche Situationen, die ihrer beider Lebenserwartung vermutlich erheblich senkten, viel zu gut zu kennen. Mrs. Crump sagte, sie werde dafür sorgen, dass Trey sich sofort bei Marybeth melde, sobald sie von ihm höre.
» Sagen Sie ihm, dass ich nicht in Panik bin«, bat Marybeth.
Mrs.
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