Wilde Flucht
begann. Er hatte sich an seine entstellte Miene und seine das Gesicht verzerrenden Grimassen gewöhnt und war davon nicht mehr so beunruhigt wie anfangs. Stewies fröhlicher Optimismus war beruhigend und hilfreich. Je länger sie unterwegs waren, desto kräftiger schien Stewie zu werden. Während Britney – oder Margaret oder wer immer sie war – immer tiefer in düsterer, kratzbürstiger Angst versank, wies Stewie weiter auf die Tierwelt und auf Dinge hin, die ihm interessant erschienen, als wäre er nur auf einem Spaziergang durch die freie Natur und als wäre Joe sein stoischer Führer.
» Wer um sein Leben rennen müsste«, hatte er am Morgen vergnügt erklärt, » hätte sich dafür keinen schöneren Tag aussuchen können!«
Kein Wunder, dass Marybeth ihn mochte, dachte Joe.
Da er Stewie und Britney erneut zu weit vorausgeeilt war, blieb er stehen, drehte sich um und wartete auf sie.
Stewie bewunderte im Gehen den Canyon, achtete nicht auf den Weg, stieß mit der Stiefelspitze gegen einen großen Stein und verlor das Gleichgewicht.
Joe wollte ihn noch festhalten, doch er war zu weit entfernt. Stewie fuchtelte mit den Armen in der Luft, und ein Bein stieß gegen das andere. Um das Gleichgewicht zurückzuerlangen, trat er in ein Wacholderdickicht, das gefährlich nah am Abgrund wuchs, doch die Äste gaben unter seinem Gewicht nach.
Stewie stürzte so rasch ab, dass Joe nur nach dem flüchtigen Nachbild seiner ausgestreckten Hände greifen konnte.
Joe näherte sich dem Wacholder, während Britney jammerte, das Gesicht in den Händen vergrub und sich von dort entfernte, wo Stewie abgestürzt war.
» Britney!«, rief Stewie. » Hör auf zu schreien. Mir geht’s gut.«
Joe kniete sich hin und schob die dicken, harzigen Äste vorsichtig auseinander. Stewies große Hand hielt sich wie eine träge rosa Krabbe so sehr am Wurzelwerk des Strauchs fest, dass seine Fingerknöchel blauweiß waren. Joe wappnete sich innerlich, griff Stewies Handgelenk mit beiden Händen und begann zu ziehen.
» Brr, Joe!«, rief Stewie von unten. » Brr, Kumpel! Mir geht’s gut. Ich stehe auf einem Felsvorsprung.«
Joe seufzte, richtete sich auf und sah zu, wie Stewies Hand den Strauch losließ und nach unten glitt.
» Stewie!«, rief Britney erleichtert und lehnte sich an einen Baumstamm. » Tu mir so was nie mehr an.«
» Soll ich Ihnen nicht hochhelfen?«, fragte Joe.
Es war einen Moment lang still. Dann flog ihm etwas kleines Braunes unter dem Wacholderstrauch weg entgegen. Als Joe es fing, stieg eine Staubwolke auf.
Es war eine alte Kinderpuppe. Der runde Kopf bestand aus steinhartem Leder, und die Arme und Beine waren mit Federn ausgestopft und aus rauem, altem Stoff genäht. Das Gesicht – falls die Puppe eins gehabt hatte – war im Laufe der Jahre verblichen. Das filzige schwarze Haar, das an den Lederkopf genäht war, schien von einem Menschen zu sein. Zweifellos hatte dieses Spielzeug einem Indianerkind gehört.
Joe robbte vor und schob die Wacholderzweige beiseite. Stewie sah zu ihm auf, und sein breites Grinsen ließ an einen Kühlergrill denken.
Der Felsvorsprung, auf dem er stand, war nicht viel breiter als eine Treppenstufe, verlief parallel zur Schluchtkante, wechselte dann die Richtung und führte abwärts. Weit unter Stewie ragten graue Zeltstangen, die vor hundertfünfzig Jahren in den Abgrund gefallen waren, aus dem Gesträuch hervor, in dem sie sich verfangen hatten.
Joe musterte die Wand gegenüber genauer als zuvor und entdeckte nun den schmalen Vorsprung – eine geologische Besonderheit, die beim gleichmäßigen Gelb und Grau der Felswand kaum zu erkennen und mitunter von Bewuchs verborgen war und sich auch gegenüber in Serpentinen emporzog.
» Das ist der Übergang«, flüsterte er. » Hier haben die Cheyenne den Canyon durchquert.«
33
» Hab ich Sie aufgeweckt?«
» Machen Sie Witze? Ich hab nicht geschlafen«, sagte Marybeth und schwang sich mit ans Ohr gehaltenem Hörer aus dem Bett. Der Fußboden war kalt, ihre Füße nackt. » Haben Sie Joe gefunden?«
Trey Crump zögerte.
» Ich habe seinen Pick-up im Tal entdeckt. Er stand gleich neben der Straße.«
Die Verbindung war wackelig und immer mal wieder verrauscht. Marybeth sah auf die Uhr auf dem Nachtschrank – es war Viertel vor sechs.
» Und Joe haben Sie nicht gesehen?«
» Nein«, rief Trump über das Rauschen hinweg. » Ich musste auf die Passhöhe zurückfahren, um überhaupt Funk- oder Handykontakt zu kriegen, Marybeth.
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