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Wilde Flucht

Wilde Flucht

Titel: Wilde Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
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zweite Hälfte war kaum zweihundert Meter weit weg und – wie die Seite, auf der sie sich befanden – dicht mit Wacholder und alten Fichten bewachsen. Joe konnte die geologischen Schichten an der anderen Schluchtseite deutlich erkennen. Es sah aus, als sei der Berg nicht schon vor Jahrmillionen, sondern erst kürzlich entzweigeschnitten worden. Das Unterholz und die Wurzeln am Canyonrand schienen sich nach dem Bewuchs gegenüber zu strecken.
    Hinter der anderen Kante und zwei flachen Höhenzügen lief die Bergkette ins Ranchland des Twelve Sleep-Tals aus, in dem auch Saddlestring lag.
    Joe wusste, in welcher Gefahr sie schwebten. Nun, da sie an den Canyon gelangt waren, konnten sie sich nur noch nach Osten oder Westen halten, und Charlie Tibbs würde rasch herausfinden, welchen Weg sie eingeschlagen hatten. Joe wusste, dass anderthalb Kilometer im Osten eine Schlucht vom Canyon abzweigte und die weitere Flucht blockierte. Sollten sie diese Richtung nehmen, säßen sie bald in der Falle. Ihnen blieb also nur, sich westlich zu halten.
    Joe vergegenwärtigte sich, wo er die Vögel aus dem Wald hatte auffliegen und das verraten sehen, was er für Charlie Tibbs’ Position hielt, und schlussfolgerte daraus, wohin er unterwegs war. Tibbs würde entweder ihren Spuren zum Canyon und dem Abgrund nach folgen oder vorausreiten und sie abzufangen versuchen. Joe wünschte, er wüsste mehr über Tibbs – über sein Denken und Handeln; über die Handschrift seines Vorgehens –, um eine genauere Vorstellung davon zu haben, was er als Nächstes täte. Profis wie er gingen stets nach Plan vor, nie spontan. Sie hielten sich an bewährte Methoden und Verfahren. Egal, was geschah: Joe hielt eine Konfrontation für unvermeidlich. Und er wäre gern besser darauf vorbereitet gewesen.
    Es war entscheidend, den Blick für das Wesentliche zu behalten. Joe versuchte, alle Überlegungen, Erinnerungen und Tagträume auf eine zentrale Absicht zu richten: darauf, zur Reaktion bereit zu sein. Er mahnte sich, genauer zu sehen und zu lauschen. Und er hoffte, dass er – sollte Tibbs in der Nähe sein – seine Gegenwart fühlen und sich vorbereiten könnte. Sie durften nicht länger im dichten Wald bleiben. Also würde Tibbs sie alle mit seinem tödlichen, enorm weit reichenden Gewehr von einer Position mit gutem Schussfeld aus erschießen können.
    Tibbs war besser vorbereitet und ausgerüstet und zu Pferd unterwegs – darum war er vermutlich ausgeruht, satt und gut bewaffnet. Er hatte offenkundig Erfahrung mit der Menschenjagd. Bei jeder Begegnung wäre er ihnen erdrückend überlegen. Joe mit seinem .357er-Magnum-Revolver und dem Wissen, praktisch alles zu verfehlen, auf das er feuerte, fühlte sich praktisch hilflos.
    Was würde Joe tun, falls Charlie Tibbs plötzlich aus dem Unterholz brach und ihnen den Weg abschnitt? Er versuchte, sich seine Reaktion vorzustellen, um sie später quasi instinktiv ausführen zu können, und malte sich aus, die Pistole sauber zu ziehen, sie mit beiden Händen in Schussstellung zu heben und abzudrücken, bis alle Kugeln abgefeuert waren. Er würde dorthin zielen, wo sein Gegenüber am breitesten war. Der Lärm würde Tibbs immerhin ablenken und Stewie und Britney die Chance geben, ins Gesträuch und zurück in den Wald zu fliehen. Sollte er Tibbs und sein Pferd verfehlen, bestand immerhin die Möglichkeit, dass die Schüsse das Tier erschrecken, sich aufbäumen und samt Reiter in den Abgrund stürzen lassen würden. Auf Tibbs’ Pferd zu zielen erschien Joe unanständig, doch angesichts der Lage waren Skrupel fehl am Platz. Außerdem hat der Mistkerl Lizzie erschossen, dachte Joe bitter.
    » Diese Indianer haben den Canyon nie und nimmer überwunden«, erklärte Britney. Joe musste ihr beipflichten, da er keine Möglichkeit sah, auf den Grund der Schlucht zu steigen und auf der anderen Seite wieder hinaufzuklettern. Selbst die Falkennester im Fels wirkten absturzgefährdet.
    » Nicht verzagen, Miss Steinburton«, redete Stewie ihr zu.
    » Ist das Ihr echter Name?«, fragte Joe. » Steinburton?«
    » Margaret Steinburton«, berichtete Stewie. » Erbin der Chemiefabrik Steinburton in Palo Alto, Kalifornien.«
    » Halt den Mund, Stewie«, sagte sie. » Er hat mich gefragt, nicht dich.«
    Stewie kicherte, und Joe ging schweigend weiter.
    Überrascht stellte Joe fest, dass er Stewie trotz seiner beinahe ununterbrochenen Monologe, seines gelegentlichen Jammerns und seiner anmaßenden Ansichten langsam zu mögen

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