Wilde Flucht
eure großartigen Ideen Wirklichkeit werden, stimmt’s?«
Sie folgten dem Wildwechsel der Wapitis bis an den Fuß des Berges und querten wieder einen Bach, den das Schmelzwasser kräftig hatte ansteigen lassen. Sie tranken daraus, erstiegen den nächsten Hang durch dichtes Unterholz und kletterten Schluchten hinunter und wieder hinauf, die mit dem Skalpell in die Landschaft geschnitten zu sein schienen.
Je höher sie kamen, desto flacher wurde das Terrain aber, und der Aufstieg wurde leichter. Joe war schweißnass und benommen vor Hunger. Das Wasser schwappte beim Gehen in seinem leeren Magen. Der Vorfall mit dem Wapiti hatte Stewies Monologe seltener und weniger begeistert werden lassen, und Britney war noch immer so wütend auf Joe, dass sie kein Wort sagte. Joe bedauerte das nicht.
Die Zahl der Bäume nahm ab, doch die Stämme, an denen sie vorbeikamen, wurden dicker und größer. Joe hatte das Gefühl, sie seien in ein Land der Riesen gekommen und würden immer mehr zu bloßen Flecken auf dem Waldboden. Unwillkürlich musste er an Marybeth und an Sheridan, Lucy und April denken. Mitunter überbewältigte ihn der Gedanke an seine vier Mädchen fast.
Die Bäume waren nun licht genug, um den Hang in ihrem Rücken zu sehen. Während Britney und Stewie eine Pause einlegten, musterte er mit dem Fernglas den Wald, durch den sie gekommen waren, schätzte ab, wo der Wildwechsel in Serpentinen den Hang hinabführte, und folgte ihm bis zum Bergrücken hinauf, konnte aber nirgendwo eine Bewegung ausmachen.
Dann flatterten weit rechts am Berg Tannenhühner aus den Bäumen, glitten über die Kronen, flogen eine Kurve und ließen sich außerhalb seines Blickfelds wieder auf den Boden nieder. Etwas – oder jemand – hatte sie aufgescheucht.
» Der Wildwechsel hat ihn von unserer Spur gebracht«, sagte Joe leise. » Er ist weit da hinten rechts und steigt durch den Wald ab. Wahrscheinlich versucht er, unsere Spur wieder aufzunehmen.«
» Mist«, schimpfte Stewie und warf einen Kiefernzapfen ins Unterholz. » Wie weit ist er weg?«
Joe versuchte, den Abstand zwischen der Federwildschar und ihrem Standort zu schätzen. Charlie Tibbs holte auf.
» Eine Stunde. Vielleicht anderthalb.«
» Wir können nicht immer weiter fliehen«, sagte Britney mehr zu Stewie als zu Joe. » Wir sind erschöpft, und wir kommen immer tiefer in die Wildnis. Vielleicht können wir mit ihm reden. Das haben wir noch nicht einmal versucht.«
» Du kannst ja hierbleiben und mit ihm reden, wenn du willst«, brummte Stewie und rappelte sich wieder auf. » Das ist der Kerl, der meine Frau in die Luft gejagt und seinem Kumpel keinen Meter von mir entfernt das Gesicht weggeschossen hat.«
Wie Nebenflüsse, die einen großen Strom speisen, begannen einzelne Spuren vom Wildwechsel abzuzweigen. Joe bemerkte als Erster, dass der eben noch so deutlich sichtbare Pfad immer schmaler wurde.
Er spürte etwas vor sich liegen, das er zunächst nicht begreifen konnte. Es war das Gefühl von riesiger Weite und Offenheit, das den dunklen Wald Lügen strafte.
Er arbeitete sich durch eine dicke Wacholdermauer. Die Äste waren so dicht und zäh, als wollten sie ihn abwehren. Stewie und Britney jammerten hinter ihm, sie würden nicht begreifen, warum er ausgerechnet diesen Weg nehme. Britney schrie auf, als ein Ast von Stewie zurückschnellte und sie ins Gesicht traf.
Der Wacholder roch durchdringend und scharf, und seine verstaubten Beerenbüschel, die zu Boden fielen, sahen aus wie Kaninchenlosung. Joe duckte den Kopf vor, damit das Unterholz ihm nicht den Hut abschlug.
Mit einem energischen Stoß durchdrang er die Mauer des Unterholzes, stolperte ins Offene und schnappte nach Luft.
Wäre er noch einen Schritt weiter getaumelt, dann wäre er gut zweihundert Meter tief in den Canyon namens Savage Run gestürzt.
32
Savage Run fiel unvermittelt senkrecht ab und war ohne jeden Zweifel herrlich, erschien Joe aber praktisch unüberwindbar. Also folgten sie einem Wildwechsel am Abgrund entlang. Ab und an schob Joe sich bis an die Schluchtkante und blickte hinunter. Der mittlere Zufluss des Twelve Sleep River war ein dünnes graues Wasserband auf dem verschatteten Boden des Canyons. Da und dort saß auf Steinvorsprüngen weit unten ein aus Zweigen gebautes Falkennest.
Der Canyon war geologisch so einzigartig, wie Joe es hatte sagen hören, und lief nicht von einer Anhöhe abwärts, sondern spaltete den Bergrücken mit scharfem Schnitt in zwei klare Hälften. Die
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