Wilde Magie - Wilde Magie - Fever / Wild Rain
unverkennbar. Und ein Gestaltwandler. Ein mythisches Wesen aus uralten Legenden.
»Warum willst du, dass ich Angst vor dir habe, Rio?« Ohne auf sein warnendes Fauchen zu achten, beugte sie sich vor und rieb das Gesicht an seinem dunklen Pelz. »Du bist der einzige Mensch, der mich je um meiner selbst willen gemocht hat. Du hast mich aufgenommen, obwohl ich
es nicht verdient hatte. Was ist so schrecklich an dem, was du bist? Ich kenne da viel schlimmere Menschen.« Hinter ihren Augenlidern brannten Tränen. Sie konnte nicht bei ihm bleiben. »Ich schätze, das beantwortet die Frage, warum du nackt im Wald herumläufst. Du gehst nachts gern als Leopard spazieren, nicht wahr?«
Es war sinnlos, sich in der Tiergestalt vor ihr zu verstecken. An ihren Augen konnte er ablesen, dass seine Geständnisse sie nicht schockiert hatten. Er sah dort nur Traurigkeit. Rio wechselte wieder in seine menschliche Gestalt und setzte sich neben dem Bett auf den Boden. »Ich bin weder Mensch noch Tier, sondern eine Mischung aus beidem. Wir haben Wesenszüge beider Spezies und zudem einige eigene.«
»Kannst du noch eine andere Gestalt annehmen?«
Rio schüttelte den Kopf. »Wir sind gleichzeitig Mensch und Leopard und können nur die beiden Formen annehmen. So bin ich, Rachael, und ich schäme mich nicht dafür. Es gibt nur wenige von uns, doch hier im Regenwald spielen wir eine wichtige Rolle mit unserem Engagement. Wir verhalten uns außerdem nach einem Ehrenkodex, und unsere Ältesten wissen mehr als die moderne Wissenschaft. Obwohl wir natürlich aufpassen müssen, dass wir unentdeckt bleiben, tragen wir auf vielerlei Weise zur modernen Gesellschaft bei.«
Stolz lag in seiner Stimme, doch Rachael sah auch die Unsicherheit in seinem Blick. »Sag mir, was deiner Mutter zugestoßen ist, Rio.« Sie konnte gerne die Gefährtin, Freundin und Geliebte eines Gestaltwandlers sein, aber mit einem Mörder wollte sie keinesfalls leben. Das hatte sie schon hinter sich, und sie würde es auf gar keinen Fall wieder tun.
Rio fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und verursachte ein derartiges Chaos, dass sein wirrer Schopf noch zerzauster aussah als üblich. Immer wieder fielen ihm Locken in die Stirn und lenkten die Aufmerksamkeit auf seine funkelnden Augen. »Ich dachte, du würdest sofort davonlaufen, wenn du weißt, was ich bin.«
Rachaels langsam aufstrahlendes Lächeln war so verführerisch, viel sinnlicher als ihr bewusst war. Rio wäre fast das Herz stehengeblieben. »Tja, hätte ich vielleicht tun sollen. Aber im Moment käme ich ohnehin nicht weit.«
Ihr Lächeln war ansteckend, selbst in so einem Augenblick, in dem sie ihm das Herz herausreißen und sein Leben für immer verändern konnte. Rio wollte es am liebsten erwidern. »Ich gebe zu, dass ich das mit in Betracht gezogen habe, als ich zu dem Schluss gekommen bin, dir das Ganze besser zu erzählen. Hat mir einen winzigen Vorteil verschafft.«
»Cleveres Kerlchen.« Rachael strich die Haarsträhnen zurück, die ihm ständig in die Stirn fielen. »Erzähl es mir, Rio. Erzähl es mir so, wie es passiert ist, nicht so, wie andere es wahrgenommen haben.«
Rio spürte den vertrauten Schmerz, die Trauer, die ihn stets überwältigte, wenn er an den Tag dachte. Er rieb sich die plötzlich pochenden Schläfen. »Sie liebte die Nacht. Wie wir alle. Es ist wunderschön, wie das Mondlicht auf den Bäumen und dem Wasser schimmert. Wir sind gern nachts aktiv. Alle Sorgen des Tages verschwinden, wenn wir unsere Leopardengestalt annehmen. Wahrscheinlich ist es eine Art Flucht, über die Äste zu laufen und im Fluss zu planschen. Wir lieben das Wasser und sind alle gute Schwimmer. Sie ging in jener Nacht allein in den Wald, weil ich am Haus arbeitete.«
»Wo war dein Vater?«
»Er war schon einige Jahre tot. Es gab nur noch uns beide. Sie war es gewöhnt, allein zu sein. Ich bin über die Jahre wegen meiner Ausbildung öfter weg gewesen, daher hat sich keiner von uns etwas dabei gedacht. Zuerst habe ich mich nach Neuigkeiten umgehört -, den Tieren und dem Wind gelauscht. Du hast es erlebt, du weißt, wovon ich rede. Ich wusste sofort, dass ein Eindringling unterwegs war. Ein Mensch - keiner von uns. Nur wenige Menschen wagen sich so tief ins Innere der Wildnis vor, wenn sie nicht einheimisch sind, und die Tiere gaben mir zu verstehen, dass jemand unterwegs war, der uns gefährlich werden konnte.«
Rachael hob vorsichtig ihr lädiertes Bein aus dem Bett, sie musste es einmal ausstrecken.
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