Wilde Rose der Prärie
daran, wie alle Spiegel im Haus mit schwarzem Krepp drapiert waren, an den knallenden Gewehrschuss, als er Williams Pony an einem schwülen Sommernachmittag erschießen ließ.
All das hatte sich zugetragen, als sie ihren sechsten Geburtstag feierte. Raul führte damals das kleine gescheckte Shetlandpony weg, das ihr Geburtstagsgeschenk hätte sein sollen. Später gestand er ihr, dass er es einem Rancher gegeben hatte. Sie war noch ein Kind gewesen, daher war ihre Trauer um das Pony größer gewesen als um William, und der Gedanke daran bereitete ihr noch immer schwere Schuldgefühle.
„Nein, nein", behauptete sie nach einem tiefen Seufzer und antwortete endlich auf seine Frage, die er vor einer scheinbaren Ewigkeit gestellt hatte. „Es ist alles in Ordnung."
„Ich glaube Ihnen kein Wort", ließ Holt sie in ruhigem Tonfall wissen, dann nahm er die Zügel auf, tippte sich an den Hutrand und setzte seinen Weg in die Stadt fort. Lorelei schaute ihm nach und fragte sich, wann er endlich San Antonio verlassen und dorthin zurückkehren würde, wo er herkam.
8. Kapitel
Schuldgefühle und der Wunsch, irgendetwas erledigen zu müssen, um für eine Weile Ruhe zu haben und das Haus verlassen zu können, führten Lorelei zu St. Ambrose's, einer alten Mission am Stadtrand. Der Weg dorthin war lang und die Hitze schier unerträglich, doch als sie die schattige Stelle erreichte, an der ihre Mutter und William Seite an Seite beerdigt lagen, da fand sie ein wenig Trost. Selma Hanson Fellows' Grabstein bestand aus einem marmornen Engel, der eine Trompete hoch erhoben an seine Steinlippen hielt. Seine Augen blickten bis in die Ewigkeit, Schimmel und Flechten in den Ritzen seines detailliert gemeißelten Gesichts und in seinem wallenden Gewand verliehen ihm etwas Unheimliches. Lorelei küsste ihre Fingerspitzen und drückte sie auf das S im Namen ihrer Mutter. Eine sanfte Brise wehte über den Friedhof und verschaffte ihr etwas Abkühlung, während sie vergeblich in ihrem Kopf wenigstens nach den Schemen einer Erinnerung an ihre Mutter suchte.
Williams Grab fiel bescheidener aus, der Engel war ein Stück kleiner, aber die Inschrift im Granit besaß dafür eine Bitterkeit, die man bei ihrer Mutter vermisste.
GELIEBTER SOHN DES ALEXANDER FELLOWS
MEINE SEELE STARB MIT IHM
Zum zweiten Mal an diesem Morgen zog Lorelei das Taschentuch hervor und tupfte ihre Augen ab. Nach Williams Beerdigung war der Richter einen ganzen Monat lang volltrunken gewesen, Tag und Nacht. Sie erinnerte sich an seinen struppigen Bart, an sein zerzaustes Haar, das vom ständigen Haareraufen hochstand. Seine Kleidung stank nach Tabak und Schweiß, darunter mischte sich der unterschwellige Geruch der Verzweiflung.
„Du", hatte ihr Vater einmal gemurmelt, als sie in sein Arbeitszimmer geschlichen kam und versuchte, sich auf seinen Schoß zu setzen. Mit einer schroffen Handbewegung schob er sie von sich weg und sagte: „Wenn schon einer von euch beiden sterben musste, warum dann er? Mein einziger Sohn. Meine einzige Hoffnung."
Die Erinnerung daran veranlasste Lorelei, die Arme um ihre Taille zu schlingen und den Kopf sinken zu lassen. An diesem Tag, in diesem einen Augenblick hatte Alexander Fellows aufgehört, für sie „Papa" zu sein. Von da an war er nur noch der Richter. Seitdem verlief zwischen ihnen ein unsichtbarer Canyon, und falls es eine Brücke gab, die sie wieder zusammenführen konnte, dann hatte Lorelei sie noch nicht entdeckt.
Von Angelina, ein paar Schulfreunden und einigen entfernten Cousinen abgesehen, war Lorelei seit damals stets allein gewesen. Bis Michael auftauchte. Ein Schluchzen wollte ihrer Kehle entweichen, doch sie schluckte es herunter, indem sie schmerzhaft hastig einatmete.
Sie riss sich zusammen, da Schwäche ihr keinen Vorteil verschaffen konnte und ein Blick zurück auch zu nichts führte.
Michael hatte man im Familiengrab der Chandlers beigesetzt, bei seinen Eltern, den Großeltern und der Schwester, die als Kind gestorben war, sowie etlichen Tanten und Onkels.
Langsam schlenderte Lorelei zu diesem Grab und ließ sich auf einer Bank in der Nähe nieder. Michaels letzte Ruhestätte war schlicht, nur ein Steinkreuz erinnerte an ihn. Tief in ihrem Herzen glaubte Lorelei zu hören, wie er ihren Namen rief. Holt kniete vor Olivias Grab und legte in Lizzies Auftrag Blumen in den Kreis aus weißen Steinen, der die Grabstätte einrahmte. Ein vor langer Zeit umgestürzter Stein, längst zur Hälfte vom Gras
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