Wilde Rosen: Roman (German Edition)
darin entweder die Teeblätter entsorgt wurden oder aber es war lange her, seit irgendwer so etwas wie WC-Reiniger hineingeschüttet hatte, vom Gebrauch einer Bürste ganz zu schweigen. Ihr Kunde hatte offenbar keinerlei Geruchssinn.
Aber das letzte Zimmer entschädigte sie für alles.
Sie wußte sofort, daß dies der Arbeitsraum eines Künstlers war, und der Gedanke allein reichte völlig aus, um ein herrliches Ziehen nervöser Euphorie in ihrem Magen zu verursachen. Ihre Mißbilligung wegen seiner schmuddeligen Lebensgewohnheiten löste sich in nichts auf. Es war ein geradezu unglaublicher Zufall, daß ihr erster Job in London sie praktisch sofort in das Heim eines Künstlers geführt hatte. Und als sie sich genauer umsah, erkannte sie, daß dieser Künstler unterrichtete.
Das Atelier war ein großzügiger Raum, vermutlich war es einmal das Dachgeschoß von wenigstens zwei Häusern gewesen. Auf dem stumpfen Parkett hätte ein Ballettkorps mittlerer Größe Platz gefunden, doch statt der Tänzer verteilten sich mehrere Staffeleien im Raum, kreisförmig um ein jetzt leeres Zentrum angeordnet.
Was hatten sie wohl gemalt? Ein Arrangement für ein Stilleben, vielleicht Äpfel, Orangen und eine Milchkanne? Ein fröstelndes Modell vielleicht, nackt oder mit einem kunstvoll drapierten Laken unzulänglich bedeckt? Und wie gut waren diese Schüler?
Es wäre ein leichtes gewesen, eins der verhüllenden Tücher anzuheben und darunter zu spähen, aber Harriet kannte ihre eigene Scheu bezüglich ihrer künstlerischen Ambitionen zu gut, um jemand anders in dieser Hinsicht zu nahe zu treten. Sie hatte Kunst als Leistungskurs gehabt, und ihr Lehrer hatte ihr ein großes Talent bescheinigt, aber das war auf dem Land. Diese Schüler hier waren wahrscheinlich um Klassen besser, der Anblick ihrer Arbeiten würde sie einschüchtern und in eine tiefe Depression stürzen. Also besser, sie sah sie nicht.
Die Leinwände, die an der Wand lehnten – fertige Werke – waren noch verführerischer. Denn sie gehörten vermutlich dem Besitzer dieser Wohnung, dem Lehrer, dem Künstler.
Harriet wandte der Versuchung entschlossen den Rücken zu und betrachtete das Atelier vom Standpunkt des Künstlers aus. Zwei Reihen von Dachfenstern unterbrachen die Längswände, in die Decke waren Oberlichter eingelassen, die, den feuchten Flecken darunter nach zu urteilen, mehr einließen als nur Licht. Aber es war ein Studio, wie jeder Künstler es sich erträumte. Ganz besonders solche Künstlerinnen, die bislang nur in der heimlichen Abgeschiedenheit eines schlecht beleuchteten Schlafzimmers gemalt hatten. Sie schlenderte zu einem der Fenster hinüber und stellte sich auf die Zehenspitzen, um hinauszusehen.
Es hätte dieser Ausblick sein können, der Wordsworth zu seinem Gedicht »Verfaßt auf der Westminster-Brücke« inspiriert hatte, wenngleich die Formation der Dächer eine völlig andere und Westminster mehr als eine Meile weit weg war. Doch für Harriet hatte es diesen »Nichts Schön’res hat die Erde aufzuweisen«-Charakter, der die unangenehmen Seiten des Stadtlebens, wie sie ein Mädchen vom Lande empfand, beinah wettmachte.
Unregelmäßig geneigte Dächer und Flächen unter einem Gespinst aus Kabeln lenkten ihren Blick zum Fluß und zur Battersea Bridge. Fabrikschlote, die vermutlich die Umwelt mit giftigen Gasen verseuchten, gewannen durch die Distanz eine Art erhabener Schönheit. Wolkenkratzer, abstoßend häßliche Kästen, wenn man sie aus der Nähe betrachtete, leuchteten im Schein der Herbstsonne. Harriet hätte nie gedacht, daß die Skyline eines Industriegebiets so schön sein könnte.
Sie wandte sich wieder dem Raum zu und kehrte somit dem Ausblick, der ihre Gedanken abschweifen ließ, den Rücken. Auch wenn sie sich nicht gestattete, unter die verhüllenden Tücher zu sehen, um den Leistungsstand der Schüler, die dieses wundervolle Atelier zur Verfügung hatten, zu ergründen, war der Geruch von Ölfarbe und Terpentin ihr doch ungeheuer angenehm. Eine weniger nüchterne Frau als sie hätte es vielleicht als gutes Omen angesehen. Schließlich war sie ja nach London gekommen, um malen zu lernen. Sie packte ein Paar von Mays Arbeitshosen, Natrongranulat und Gummihandschuhe aus ihrer Tasche und schaltete das Radio ein. Sie beschloß, mit der Küche anzufangen und die zwei Stunden, die sie hatte, unter Volldampf zu arbeiten. Auf diese Weise würde der unbekannte Künstler beim nächsten Mal wieder nach ihr verlangen.
In der
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