Wilde Rosen: Roman (German Edition)
ersten Sekunden sie immer ein wenig nervös.
»Hallo?« rief sie. »Tut mir leid, daß ich so spät dran bin.«
Aber nur leere Stille antwortete ihr, und sie ging in die Küche. Ihr erster Putzeinsatz heute morgen hatte ihr einen Parkettboden von der Größe eines Tennisplatzes beschert, der auf Händen und Knien poliert werden mußte. Anschließend gab es einen unschönen Zusammenstoß mit Mike, dem Vermieter ihres Liegeplatzes, der mit zunehmender Ungeduld auf Zahlung drängte, wo doch ihr Lohn nur tröpfchenweise kam. Davon hatte sie sich noch nicht erholt, und dann mußte sie auch noch ewig auf eine Bahn nach Richmond warten. Darum war sie sehr viel später dran und sehr viel müder als erwartet.
»Ein Glück, ich bin allein«, murmelte sie. »Wo ist der Kessel?«
Die Küchenfront war aus hell gebeizter Eiche. Alle Schranktüren, die Spülmaschine, sogar die Ofentür. Die einzige Ausnahme bildete ein weißer Kühlschrank. May überlegte für einen Moment, warum das wohl so war, und dann erkannte sie, daß eine hölzerne Kühlschranktür das Anbringen von bunten Kühlschrankmagneten unmöglich gemacht hätte. Sie fehlten in keinem Mittelklassehaushalt, hatte May festgestellt, waren weniger eine Modeerscheinung als eine Notwendigkeit.
In dieser Familie gab es Kinder, die offenbar in großer Eile hinausgestürzt waren. Der Tisch erinnerte an das Geisterschiff Marie Céleste, als seien auch hier alle während des Essens plötzlich aufgesprungen und auf unerklärliche Weise verschwunden. Schälchen mit Milch und durchweichten Cornflakes, Toastscheiben, in die Halbmonde gebissen worden waren, ein halbes Dutzend Marmeladengläser oder ähnliches, die Deckel schief aufgeschraubt. Nach der Anzahl an Kaffeebechern zu urteilen lebten vierzehn Personen in diesem Haushalt.
Versteckt zwischen mehreren Familienpackungen mit Frühstücksflocken lag ein Notizblöckchen, bedeckt mit Kaffeeringen und Brotkrümeln und einer grünen Filzstiftnachricht, vermutlich in der Handschrift ihrer Kundin. Die Buchstaben waren rund und schwungvoll, griechische E’s und kleine Kringel als I-Punkte. Die vielen Ausrufezeichen sahen aus wie Heißluftballons.
May zog sich einen Stuhl heran. Sie hatte den Verdacht, daß sie dies vielleicht lieber im Sitzen lesen sollte. Dann schuf sie sich mit den Ellenbogen Platz auf dem Tisch, strich den Zettel glatt und las. Liebe Haushaltshilfe, (tut mir furchtbar leid, ich hab’ Ihren Namen vergessen). Etwas Schreckliches ist passiert! Es sieht so aus, als werde die Tante meines Mannes sterben! Sie liegt seit Jahren im Sterben, aber mein Mann denkt, wir sollten hinfahren. Mit ein bißchen Glück müßte sie heute abend entweder tot sein oder sich erholt haben. Hoffentlich! Wir bekommen nämlich Besuch von einem waschechten Staranwalt, der Marcus (meinen Mann!!) vielleicht zum Partner machen will.
May wunderte sich inzwischen nicht mehr darüber, was für persönliche Dinge die Leute ihrer Putzfrau anvertrauten. Sie las weiter. Die Sache ist die: Würden Sie das Essen kochen? (May schnappte nach Luft. Das war ernst.) Der Mann von der Agentur hat gesagt, Sie könnten wahre Wunder vollbringen! Ich habe die Speisefolge aufgeschrieben und Ihnen Geld zum Einkaufen hingelegt. Sie müßten alles bei Sainsburys bekommen. Nehmen Sie ein Taxi zurück. Ich habe auch die Titel der Kochbücher aufgeschrieben, in denen Sie die einzelnen Rezepte finden (sehr effizient für meine Verhältnisse!). Das Haus ist in halbwegs erträglichem Zustand, wenn Sie vielleicht nur mal eben durch Wohnzimmer, Eßzimmer und Gäste-WC gehen würden und sich ansonsten auf das Essen konzentrieren. Eine Nachbarin (Gott segne sie!) behält den Hund und die Kinder über Nacht, sie sind also versorgt. Natürlich bezahle ich Sie extra fürs Kochen! Sie müssen mir sagen, wieviel Sie zu bekommen haben. Könnten Sie vielleicht auch noch bleiben und auftragen? Tausend Dank, Clorinda Stockbridge.
May fühlte sich versucht, einfach nach Hause zu gehen. Sie hätte jedes Recht dazu. Was fiel Schleimbeutel eigentlich ein, Mrs. Stockbridge glauben zu machen, sie könne kochen? Sie war als einfache Putzfrau angestellt, nicht als chéf de cuisine, und mit einem mehrgängigen Menü für eine Dinnerparty war sie schlichtweg überfordert. Aber das Wort »extra« hielt sie zurück. Es hatte einen satten, fröhlichen Klang wie das Klimpern von Münzen. Es schien zu bedeuten, daß May das Geld unmittelbar bekommen würde, nicht die Firma.
Mike hatte es klipp
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